„Die Nachbarin von gegenüber. Sie sollte für die Mutter irgendwas in der Wohnung nachschauen. Ich denke, ich werde zuerst mit ihr reden. Wenn sie die Mutter kennt, wird sie uns sicher auch einiges über die Tochter sagen können.“
„Dann übernehme ich die Leute im Haus oder hast du schon mit jemandem gesprochen?“
„Na, hör mal! Ich bin ja auch noch nicht seit gestern hier.“
„Schade, sonst hättest du vielleicht unseren Täter gesehen und wir könnten uns den ganzen Aufwand sparen.“
***
In der Wohnung der Toten war es trotz der eisigen Atmosphäre, angenehm warm gewesen, und so traf die Kommissarin der feuchte Nebel, der bereits am frühen Nachmittag von Inn und Donau heraufzog und sich zwischen den Häuserzeilen ausbreitete, ganz besonders empfindlich. Frierend hielt sie die Vorderkanten ihres hellbraunen Ledermantels zusammen und zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern. Für die Jahreszeit war sie nicht passend angezogen, trotz Jeans und Stiefel, aber wer wusste im Herbst schon, was passend war. Letzte Woche war es noch herrlich warm gewesen, fast Biergartenwetter und dann der plötzliche Einbruch, die ersten Vorboten des nahenden Winters.
Um sich aufzuwärmen, hätte sie sofort zu der Nachbarin gehen können, um deren Zeugenaussage aufzunehmen, doch zuerst brauchte sie eine kleine Auszeit. In ihrer großen Handtasche aus braunem Wildleder fand sie einen Müsliriegel in einer etwas gammligen Verpackung, in den sie hungrig hineinbiss. Während ihre Zähne die Körner zermalmten und die Kohlenhydrate ihr Gehirn wieder leistungsfähig machten, ging sie langsam die großbürgerliche Häuserzeile entlang. Neben dem Bürgersteig parkten unzählige Autos Stoßstange an Stoßstange, so, als würden sie sich aneinander kuscheln, damit sie nicht frieren mussten.
Franziska dachte über die Frau nach, die tot in ihrer Wohnung lag. Was hatte sie für ein Leben geführt? Was tat eine Sängerin eigentlich, wenn sie nicht gerade auf der Bühne stand und Opernarien schmetterte? Bestimmt unterschied sich ihr Leben ganz gravierend von ihrem eigenen. Nur wie? Das würde sie als Erstes herausfinden und dann natürlich, was jemanden dazu gebracht hatte, sie zu töten.
Obwohl das dreistöckige Haus in einer eher ruhigen Wohngegend lag, hatte sich eine Bäckereifiliale in einem der Nachbarhäuser angesiedelt. Beim Anblick der eingetrockneten Ausstellungsstücke im Schaufenster lief ihr das Wasser im Munde zusammen, doch sie konnte ja unmöglich mit Gebäck zur Befragung erscheinen. Ein Stück weiter stand die Tür zu einer Videothek offen. Im Schaufenster wurden auf großen Plakaten die neuesten Videos angeboten. Filme, die sie gern im Kino gesehen hätte, die sie aber wegen irgendeines Falles verpasst hatte.
Das Piepsen ihres Handys und die SMS ihrer Freundin Lisa, mit dem Wunsch sie zu treffen, erinnerten sie nur allzu schmerzlich daran, dass es neben dem aufzuklärenden Tod eines Menschen auch noch andere Dinge in ihrem Leben gab, die jetzt aber wieder einmal warten mussten. Im Gehen schrieb sie zurück:
Geht Leider nicht,
bin an einem neuen
mordfall, melde mich,
wenn ich wieder mehr
zeit habe! Liebe
grüße franziska
Lisa hatte in der Regel Verständnis für ihren Beruf. Wenn es nicht ging, dann ging es eben nicht. Mit Männern sah es in ihrem Leben jedoch schlecht aus. Die wenigen, mit denen sie sich eingelassen hatte, stellten sich im Nachhinein als zu unflexibel heraus, als dass Franziska die Beziehungen zu ihnen mit ihrem Beruf vereinbaren konnte. Sie wollte gut sein, alles richtig, wenn nicht noch besser zu machen, gehörte einfach zu ihrer Grundüberzeugung. Fehler konnten andere machen, das ließ sich entschuldigen. Bei sich selbst setzte sie höhere Maßstäbe an. Viel höhere.
***
„Ach, sie war ja so ein reizendes und hübsches Mädchen.“ Noch immer schien Paula Nowak von ihrem Fund am Vormittag mitgenommen zu sein. Beinahe abwesend bot sie Franziska eine Tasse sehr heißen grünen Tee und einen Platz auf ihrem beigen Blümchensofa an. In ihren alten Augen schimmerten Tränen. „Wissen Sie, als sie einzog, da dachte ich, da werden die Burschen ja bald Schlange stehen!“
„Und?“ Franziska wollte hören, wie es denn nun war, wenn sich die Männer nicht sattsehen konnten, wenn eine Frau ständig umschwirrt war und natürlich, ob vielleicht einer dabei war, der als Täter infrage kam. Sie dachte an die Liebesfilme, bei denen die Hauptdarstellerinnen immer so aussahen wie Sophia Weberknecht: blond, schön und mit einer makellosen Figur. Ach ja, und natürlich waren sie auch stets voller Liebreiz.
„Eigentlich kam kaum einer. Das war ganz selten. Sie ließ niemanden an sich ran. Also ich an ihrer Stelle …“ Die alte Frau wischte mit der Hand über die Augen und kicherte. „Aber wenn jemand kam, dann ist Ihnen das schon aufgefallen?“ Franziska stand auf und spähte zwischen den Gardinen hindurch auf das gegenüberliegende Haus. Der Blick war gut.
„Aber natürlich“, rief Paula Nowak munter, besann sich aber gleich darauf, „also nicht, dass ich neugierig bin, aber“, Hilfe suchend sah sie erst aus dem Wohnzimmerfenster und dann zu ihrem Wellensittich, der in seinem Käfig zufrieden auf einer kleinen Holzschaukel vor sich hindöste. „Früher hatte ich oft Logisgäste. Um die konnte ich mich kümmern und mich mit ihnen unterhalten, aber seit ich mit meinen Beinen nicht mehr so kann, sind der Hansi und ich ganz allein. Und da sitzen wir oft hier und schauen aus dem Fenster.“ Sie ließ den Satz ein wenig in der Luft hängen, erwartete wohl nicht, darauf eine Antwort zu bekommen. Franziska nickte zustimmend. Von solchen Dingen erzählten viele alte Menschen.
„Natürlich, das verstehe ich und in diesem Fall war es ja sogar ganz wichtig, dass Sie hingeschaut haben“, bekräftigte die Kommissarin. „Haben Sie denn gestern Abend jemanden kommen oder gehen sehen?“
„Gestern Abend? Nein, da kam doch diese spannende Show im Ersten. Sie wissen schon, wo sie immer Geld für einen guten Zweck sammeln und die ganzen tollen Stars auftreten, die …“
„Ja, natürlich!“ Ach, wie Franziska diese Sätze hasste! Warum? Warum mussten die besten Zeugen immer dann, wenn man sie am dringendsten brauchte, etwas anderes tun, als neugierig aus dem Fenster zu glotzen?
„Aber gestern Nachmittag“, sie überlegte kurz, „da kam ein Mann die Straße entlang und blieb vor ihrem Haus stehen. Er sah sehr gut aus.“
Die Kommissarin lächelte entschädigt. „Und der wollte zu Sophia Weberknecht?“
„Na, so genau weiß ich das nicht. Am Nachmittag lass ich den Hansi immer fliegen. Das ist sein kleiner Spaziergang“, fügte Paula Nowak erklärend hinzu, stemmte sich von ihrem Platz hoch und stellte sich neben den Käfig.
„Dabei habe ich dann gesehen, wie der Mann aufs Haus zuging.“ Sie blickte mehrmals sehr betont vom Käfig zum Fenster. „Natürlich musste ich auch dem Hansi zusehen, wie er durchs Zimmer geflogen ist, wissen Sie, sein Lieblingsplatz ist die Lampe. Aber als ich wieder rüber sah, da stand der Mann noch immer am Haus, so, als überlege er, ob er klingeln und reingehen soll oder nicht.“
„Und?“
„Da hab ich dann so lange hingesehen, bis er reingegangen ist“, rief Paula Nowak fast fröhlich aus. „Ich hab mich so für sie gefreut! Der war ja auch viel hübscher als der andere, der manchmal kam und …“
„Und Sie sind sich sicher, dass er zu Frau Weberknecht wollte?“
„Was sollte er denn bei den beiden Ollen da drüben? Außerdem ist der Brandner im Urlaub, na, und Agnes bekommt ja keinen Männerbesuch.“
„Agnes?“
„Neumüller. Sie hat die Wohnung unter Sophia, aber die ist viel zu alt für so einen hübschen Kerl.“
„Können Sie ihn denn beschreiben?“
„Na ja, er war groß und eben richtig gut aussehend.“ Franziska überlegte, was die alte Frau wohl unter ‚richtig gut aussehend‘ verstand und ob sich ihre Meinungen wohl decken würden. Sie war sich in diesem Moment selbst nicht sicher, was sie an einem Mann als gut aussehend empfand.
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