„Haben Sie ihn schon mal gesehen?“
„Den? Nein! Ein anderer kam manchmal, ich glaube aber, das war nur ein Bekannter oder so. Bestimmt kannte sie den vom Theater. Ich wollte sie nicht nach ihm fragen, weil ich immer das Gefühl hatte, er sei nur ein Freund und vielleicht anders herum, Sie wissen schon, was ich meine.“
Franziska zog die Stirn in Falten und sah die alte Dame kopfschüttelnd an. „Dass er Männer liebt“, fügte die alte Frau erklärend hinzu.
„Ach, sie meinen, er war ein Schwuler, äh, Verzeihung, homosexuell?“
Paula Nowak zupfte an ihrer Bluse herum und kicherte dann wie ein schüchternes Mädchen. „Ihr jungen Leute bringt immer alles auf den Punkt. Zu meiner Zeit schickte sich das nicht.“ Dann nickte sie, „Aber ja“, rief sie noch fröhlicher aus, dieses Thema schien ihr äußerst viel Freude zu bereiten. „ich dachte immer, er sei ein Schwuler.“
„Aber seinen Namen wissen Sie nicht?“
Die alte Frau kicherte erneut, „Von dem Schwulen?“ Franziska musste nun auch lachen. „Ja.“
„Nein.“
„Warum glauben Sie eigentlich, dass er schwul war?“
„Weil er die Haare so lang getragen hat.“ Sie zeigte mit der rechten Hand am linken Oberarm, was sie meinte. „Und das machen doch nur Schwule, oder?“
Franziska fürchtete, dass dieses Gespräch nun doch in die falsche Richtung ging und versuchte, ihre Zeugin wieder auf den eigentlichen Grund ihrer Ermittlungen zu führen.
„Frau Nowak, bitte erzählen Sie mir, wie sie Sophia Weberknecht gefunden haben.“
Vielleicht hatte die alte Frau in der Heiterkeit des Gespräches versucht, die traurige Tatsache, dass das Mädchen tot war, zu übergehen. Nun hatte sie die Wahrheit eingeholt. Innerhalb eines Augenblicks spiegelte ihr Gesicht die ganze Tragödie und den Schmerz wider, den der Tod eines lieben Menschen hervorruft.
„Das war heute Vormittag“, begann sie mit fast tonloser Stimme. „So gegen elf. Wissen Sie, da geht es mit meinen Beinen immer am besten und ich schaffe die Treppe leichter. Die Sophia wohnt ja im obersten Stock.“
Franziska nickte und schrieb die Daten stichpunktartig in ihr grünes Notizbuch. „Zuerst hab ich bei ihr angerufen, und als niemand ranging, hab ich den Schlüssel vom Brett genommen und bin rübergegangen. Ich dachte ja, sie ist weggegangen, denn am späten Vormittag war sie meist bei Proben. An der Tür hab ich dann noch mal geklingelt, und als niemand aufmachte, schloss ich auf. Ich habe noch ihren Namen gerufen, bekam aber keine Antwort. Und dann sah ich sie auf dem Bett liegen. Erst dachte ich, sie schläft noch. Wissen Sie, bei ihr wird es am Abend oft spät, bis sie heimkommt. Ich wollte schon auf dem Absatz kehrtmachen, weil sie nackt war. Da schaut man ja nicht so genau hin. Obwohl sie ja ein wirklich hübsches Mädchen ist, ich meine, sie kann es sich leisten. Aber dann kam es mir doch seltsam vor, weil es eigentlich viel zu kalt war, um nackt zu schlafen. Ich bin zu ihr hingegangen, weil ich sie zudecken wollte. Und da sah ich ihre Augen, sie waren so leer, so weit weg, ach, es war so traurig, sie so zu sehen!“
Sie sah die Kommissarin an und jetzt bahnten sich die Tränen ungehalten ihren Weg. „Ach, es war so furchtbar! Ich musste sie noch nicht einmal berühren, da wusste ich schon, dass sie tot war. Ich kannte diesen Blick ja von früher.“ Verzweifelt sah sie zum Fenster und versuchte ihre Tränen wegzublinzeln. „Ich bin eine alte Frau. Mich hätte er holen sollen, nicht so ein junges Ding, das sein ganzes Leben noch vor sich hat.“
Franziska ließ der alten Frau Zeit, um sich zu fangen. „Haben Sie etwas verändert, als sie bei ihr waren?“
„Nein, ich bin gleich wieder raus, hab die Tür zugezogen und bin in meine Wohnung. Hier hab ich gesessen“, sie deutetet auf den Platz auf dem Sofa, „und hab die Polizei angerufen.“
Franziska wusste von den Kollegen, dass sie nicht mit hinaufgegangen war, „einmal am Tag reicht!“, hatte sie argumentiert und ihnen den Schlüssel in die Hand gedrückt.
„Und Sie haben in der Wohnung nichts verändert, vielleicht ein paar Sachen weggeräumt?“, wollte Franziska wissen.
„Nein, nein, nichts.“
„Wo bewahren Sie eigentlich den Schlüssel von Frau Weberknecht auf?“
„In der Küche, gleich hinter der Tür.“ Die alte Frau war im Begriff aufzustehen, aber Franziska bedeutete ihr sitzen zu bleiben und ging selbst in die angezeigte Richtung. „Am Schlüsselbrett“, rief ihr Paula Nowak hinterher.
Die Küchentür stand offen und gab den Blick auf eine blitzblank saubere Küche frei. Die Türen der hellen Einbauschränke waren geschlossen, alles war ordentlich verräumt, nur ein Korb mit Äpfeln und zwei gesprenkelten Bananen stand in einer Ecke. Auf dem Küchentisch lag eine karierte Tischdecke und am Fenster standen ein blühender Hibiskus und eine rote Gießkanne. Vielleicht hatte die alte Paula ja jemanden, der für Ordnung sorgte, und der könnte sich dann auch den Schlüssel ausgeliehen haben, überlegte Franziska. Dann schloss sie die Küchentür und sah auf das beschriebene Schlüsselbrett: Es hingen etliche Schlüssel daran und jeder hatte einen anderen Anhänger. Ein Haken aber war frei.
„Haben Sie eigentlich jemanden, der Ihnen hilft?“, fragte sie, als sie wieder im Wohnzimmer angelangt war, „Oder machen sie alles noch alleine?“
„Wenn man sich Zeit lässt, dann geht alles. Und Zeit hab ich ja genug, nicht wahr?“
„Kann sich jemand den Schlüssel bei Ihnen ausgeliehen haben? Also hatten Sie Besuch in letzter Zeit?“
„Nur der Briefträger, der brachte mir am Montag die Telefonrechnung. Da bin ich gerade vom Einkaufen heimgekommen, aber sonst war niemand da.“
„Und als Sie den Schlüssel heute Vormittag vom Haken genommen haben, hing er an seinem Platz?“
„Aber ja.“
Franziska nickte. „Was wollten Sie eigentlich in der Wohnung von Frau Weberknecht?“
„Ihre Mutter rief mich an und bat mich, nach den Blumen zu sehen. Angeblich ging es um ein Geburtstagsgeschenk, aber ich glaube, sie wollte nur, dass ich nach dem Rechten sehe. Sophias Mutter ist sehr besorgt um sie. Wissen Sie, sie behandelte sie wie ein kleines Mädchen und manchmal dachte ich, wenn die Mutti kommt, dann benimmt sie sich auch wieder so.“
„Wie meinen Sie das?“
„Na, immerhin war Sophia bereits zweiunddreißig und Sopranistin am Fürstbischöflichen Opernhaus, also musste sie doch irgendwann einmal auf eigenen Beinen stehen. Aber ihre Mutter wollte das nie einsehen. Vielleicht sind Mütter so. Ich habe ja keine Kinder.“
Franziska war bereits früh flügge geworden und hatte seither immer allein gelebt. Es war nicht immer leicht, aber letztlich war sie davon überzeugt, dass sie nur so tun und lassen konnte, was sie wollte.
„Sie hat so wunderbar gesungen! Und sah so bezaubernd aus. Mir hat sie immer wieder Freikarten besorgt, wissen Sie. Ich saß dann hinter der Säule auf den Teilsichtplätzen. Da hat man zwar nicht so gut gesehen, aber es war eine nette Abwechslung für mich. Ich hab ja nicht viel Rente.“
„Wie kam denn ihre Mutter auf Sie und warum hat sie Ihnen ihre Tochter so ans Herz gelegt? Das ist doch auch nicht üblich, oder?“
„Reinhilde hat für ihre Tochter eine Wohnung gesucht, und als die gegenüber frei wurde, habe ich ihr davon erzählt. Wissen Sie, wir kennen uns schon sehr lange.“
„Ach?“
„Ja, schon seit dem Krieg.“
„Was, so lange schon?“
„Na ja, wir waren zusammen beim Roten Kreuz.“ Paula Nowak stellte ihre Tasse auf den Tisch und lehnte sich zurück, dann begann sie zu erzählen.
„Nach dem Krieg kamen die Amerikaner in die Stadt, unsere Beschützer. Aber natürlich machte das unser Leben auch nicht besser. Es herrschte immer noch große Not und die Arbeit von uns Frauen war immer noch sehr wichtig – es gab ja auch so viel zu tun für uns. Eine schlimme Zeit war das, wissen Sie, fast noch schlimmer als im Krieg selbst.“
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