Doch an diesem Tag wartete ein neuer Fall auf sie, ein interessanter Fall, ihre große Chance, und damit kaum die richtige Zeit, um ans Faulenzen zu denken, zumal der Chef gar nicht mehr richtig bei der Sache war.
Den gestrigen Abend hatte sie gemeinsam mit Hannes damit zugebracht von Haustür zu Haustür zu gehen und zu fragen, ob jemand etwas gesehen hatte. Etwas Ungewöhnliches. Jemanden, der nicht in diese Gegend passte. Einen Mann, wie ihn Agnes Neumüller und Paula Nowak beobachtet hatten. Denn vielleicht waren der Mann auf der nächtlichen Treppe und der, den die alte Nowak am Nachmittag der Tat vor dem Haus gesehen hatte, ein und derselbe.
Die Definitionen, was in einer Gegend verdächtig war, gingen stark auseinander. Ein alter Mann hatte eine Gruppe Jugendlicher die Straße entlangziehen und mit einer Bierdose kicken sehen und war sich sicher, dass es sich bei ihnen um die Täter handeln musste. Eine Frau hatte eine schwarze Gestalt mit Kapuze und Sonnenbrille gesehen und schloss sich jetzt aus Angst hermetisch ein. Und einer wollte sogar den Chef gesehen haben, mit langem Mantel und Pudelmütze. Das Gesicht hatte der Zeuge nicht erkennen können, aber er hatte Brauser am Mittag ins Auto steigen sehen und meinte, der Täter habe große Ähnlichkeit mit dem Hauptkommissar gehabt. Franziska hatte es zur Kenntnis genommen, aber nicht einmal in ihr grünes Notizbuch geschrieben, so absurd war diese vermeintliche Beobachtung. Trotzdem, so überlegte sie weiter, gab es keine Immunität mehr, selbst einem Polizisten traute man inzwischen alles zu. Laut Statistik nahmen die Verbrechen immer mehr ab und die Aufklärungsrate stieg. Doch die Bürger fürchteten sich, was vielleicht auch an den stets sensationsheischenden Berichten der Journalisten lag. Gewalt, egal ob sie auf der Straße oder in Familien auftrat, wurde einfach nicht mehr toleriert. Wie immer benutzte Franziska die rechte Schulter, um damit die Glastür, die zu ihrem Büro führte, aufzudrücken. Vielleicht würde ein wenig Öl ausreichen, aber niemand hatte Zeit, um sich darum zu kümmern, und so wurde es immer zu einem Kraftakt, sie zu öffnen.
Im Vorraum saß Ramona an ihrem Schreibtisch und war in eine Liste vertieft.
„Na, was brütest du denn Schönes aus?“
„Ach, das ist nur die Liste, wer alles schon bezahlt hat.“
„Bezahlt? Wofür?“
„Für das Abschiedsgeschenk für den Chef, du weißt schon.“
„Ach ja, richtig, seine Angel. Du sag mal, kommt er dir auch so komisch vor in letzter Zeit? Ich glaube, er will gar nicht gehen.“
Ramona beugte sich so weit über den Schreibtisch zu ihr nach vorn, dass Franziska gezwungen war, in ihren Ausschnitt zu schauen. „Heute Morgen hat er gesagt, er sei krank. Ich kenne ihn jetzt seit fast fünfzehn Jahren und noch nie hat er darüber geklagt, krank zu sein.“
„Eben, das meine ich ja.“ Auch Franziska beugte sich nun näher zu Ramona hinunter. „Vielleicht ist es einfach das Alter. Er kann nicht mehr so wie früher und das will er nicht wahrhaben.“ Die Frauen hatten einen verschwörerischen Flüsterton angeschlagen.
„Dabei geht es ihm doch gut, er hat keine Sorgen, Aussicht auf eine schöne Rente und seine Frau ist doch eine ganz Liebe.“
***
Auch als sich im Westen Politiker und Wirtschaftsbosse noch nicht so viele Gedanken über Krippenplätze und Erziehungszeiten gemacht hatten, musste Ramona Maier als Sekretärin ihre Frau stehen. Der Vater ihrer beiden inzwischen vierzehn- und fünfzehnjährigen Töchter hatte sich so erfolgreich aus dem Staub gemacht, dass auch die hartnäckigste Behörde irgendwann aufgab und sie allein für den Unterhalt der Kleinfamilie verantwortlich war. Eine Belastung, die mit dem Alter und den Ansprüchen der Mädchen wuchs. Aus ihrer eigenen Jugend wusste sie nur zu genau, dass jeder, der nicht mithalten konnte, auch nicht dazugehörte. Doch sie wollte, dass ihre Mädchen dazugehören. Dafür arbeitete sie.
„Was machen deine beiden Mädels?“, fragte Franziska, weil sie wusste, dass es Ramona gut tat, wenn sie ein bisschen über ihre Sorgen jammern konnte.
„Na ja, mit zwei pubertierenden Töchtern ist es halt nicht immer einfach“, stöhnte sie und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Sie wollte nicht klagen. Sie wollte einfach Verständnis.
„Waren wir nicht alle mal so?“
„Ich weiß nicht. Ich will ja, dass sie es besser haben, als ich damals, aber“, sie zuckte hilflos mit den Schultern, „ständig brauchen sie Geld und immer muss es das neueste Handy sein. Mir reicht doch auch ein ganz einfaches. Hauptsache, es ruft mal jemand an!“
Automatisch zog Franziska ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick drauf. Keine neuen Nachrichten. Ramona hatte recht: Hauptsache es melden sich nicht immer nur die Kollegen.
„Sag mal, ist Hannes schon da?“
„Ja, er sitzt in eurem Büro.“
„Und weißt du, wann die Besprechung ist?“
„Die müsste jeden Moment beginnen.“
Als Franziska und Hannes kurz darauf gemeinsam den Konferenzraum betraten, saßen alle, die zum Team Weberknecht gehörten, bereits an den u-förmig gestellten Tischen und sahen sie erwartungsvoll an. Oberstaatsanwalt Schwertfeger hatte sich zu seinem Freund Brauser gesetzt und nippte, sichtlich lustlos, an einem Becher mit dünnem Kaffee. Sein Gesichtsausdruck ließ ahnen, dass der in der Staatsanwaltschaft schmackhafter war. Franziska trug eine Akte mit allem, was sie bereits recherchiert hatte unter dem Arm und begann gleich darauf, Fotos der toten und der lebenden Sophia Weberknecht an die Wand zu pinnen. Während sie die Bilder akkurat aufhängte, berichtete sie für alle, die nicht am Tatort waren, aus dem Leben des Opfers.
„Sophia Weberknecht wurde zweiunddreißig Jahre alt. Sie stammt aus der Senf-Dynastie Weberknecht in Regensburg.“ Ein zustimmendes Gemurmel ging durch den Raum und Franziska lächelte nachsichtig, bis sie fortfahren konnte.
„Okay. Sie war seit drei Jahren als Sängerin am Fürstbischöflichem Opernhaus zu Passau engagiert und lebte seither in der Postackerstraße 7. Wie es aussieht, allein.“
Die Kommissarin blickte kurz in die Runde, ob jemand einen Einwand hatte, und fuhr dann fort. „Nach dem bisherigen Bericht wurde Sophia irgendwann am Mittwochabend in ihrem Wohnzimmer mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen, anschließend ins Schlafzimmer gebracht und aufs Bett gelegt. Sie war nackt, als die alte Nachbarin Paula Nowak sie fand. Das Türschloss war noch intakt, und da sich in der Wohnung durchaus wertvolle Gegenstände befanden, kann wohl ein Raubmord ausgeschlossen werden.“
„Es sei denn, jemand hatte es auf etwas Bestimmtes abgesehen. Auf etwas, das im ersten Moment niemandem fehlt“, warf einer der Ermittler ein.
„Wie auch immer, sie muss von dem tödlichen Schlag überrascht worden sein, zumindest fanden wir keine Hinweise dafür, dass sie sich gewehrt hat. Näheres wird aber erst die Obduktion ergeben. Aus diesen Umständen schließen wir, dass sie ihren Mörder kannte. Laut einer Zeugin“, Franziska sah kurz zu Hannes, der Agnes Neumüller befragt hatte, „bekam sie immer wieder nächtlichen Besuch von einem Mann, der angeblich einen Schlüssel zu Haus und Wohnung hatte.“ Ihr Kollege nickte ihr zu.
„Eine Zeugin sah am Nachmittag einen Mann am Haus. Wir wissen nicht, ob es nicht derselbe war, der am Abend wiederkam oder vielleicht noch immer in der Wohnung war und so Gelegenheit zur Tat hatte. Vielleicht war er der nächtliche Besucher. Leider haben wir bisher noch keine Beschreibung.“ Franziska warf einen Blick in ihr grünes Notizbuch und schmunzelte, bevor sie vorlas. „Aber er soll gut ausgesehen haben!“
„Was bitte verstehst du unter gut aussehen?“ Der für die Ermittlungsarbeit hinzugezogene Kollege Obermüller war ein großer Kerl, breit wie ein Schrank, mit einem nicht zu übersehenden Bauchansatz, der durch zu viele Döner Kebabs während des Dienstes kam. Seine mittelblonden Haare trug er kurz, das Gesicht rasiert. Er war ein Mann der Tat, legte sich die Vorschriften gern selbst aus, leistete jedoch stets gute Arbeit.
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