Franziska sah ihn kurz an. Für Mitte vierzig hatte er sich sicher gut gehalten, aber gut aussehend fand sie ihn eigentlich nicht. Sympathisch ja, aber nicht schön.
„Schwer zu sagen. Vor allem weiß ich nicht, was Paula Nowak darunter versteht. Aber ich würde sie heute gern abholen lassen und vielleicht kommen wir mit Beispielen ihrer Beschreibung etwas näher. Sie ist übrigens schon weit in den Achtzigern und nicht mehr so ganz fit.“
„Soll ich das übernehmen?“, fragte Kollege Gruber, der eine Schwäche für alte Damen hatte.
„Ich glaube, es wäre besser, wenn Obermüller das macht. Frau Nowak vertritt nämlich die Meinung, dass alle Männer mit langen Haaren schwul sind.“ Vergnügt zwinkerte sie Obermüller zu.
„Ja sag mal, was für eine Art von Gesprächen führst du denn mit deinen Zeugen?“ Ludwig Gruber strich sich in einer oft wiederholten Geste die dunkelbraunen Haare hinter die Ohren. Seine lange Mähne war sein Markenzeichen. Auch er war groß, aber schlanker als Obermüller, mit dem Dreitagebart, den auch der beste Rasierer kaum im Zaum halten konnte, und der olivbraunen Haut hatte er viel von einem Südländer oder eben einem Indianer. Ob das der Grund für seinen Spitznamen war oder die Tatsache, dass er an manchen Wochenenden sein Tipi aufbaute und darin campierte, wusste keiner seiner Kollegen so genau zu sagen. Hinter seinem Rücken unterhielten sie sich jedenfalls gern darüber, dass es für einen Mann mit fast fünfzig schon ein bisschen lächerlich sei, Indianer zu spielen. Noch dazu, wo er außer einer Frau auch schon erwachsene Zwillingstöchter hatte, die ein wenig jünger als Franziska waren.
„Weiter!“, forderte Schwertfeger, den in diesem heiteren Moment alle vergessen hatten, nicht unfreundlich und mahnte, an den Fall zu denken.
Ertappt zupfte Franziska an ihrem Pulli herum und fuhr dann fort. „Zum Täterprofil würde ich sagen, dass wir es mit einem großen, kräftig gebauten, männlichen Täter zu tun haben. Einem, der sich entweder sehr gut auskannte oder so unauffällig war, dass er von niemandem wahrgenommen wurde. Da wir am Tatort kein Notizbuch und kein Handy mit Telefonnummern gefunden haben, sollten wir uns, neben der Befragung der Nachbarn, vor allem auf das Stadttheater konzentrieren. Frau Weberknecht sang viele Titelrollen und war, den Besprechungen nach, beim Publikum sehr beliebt. Doch schreiben die Zeitungen das eine und die Kollegen sagen vielleicht was ganz anderes.“
„Der liebe Kollegentratsch!“ Gruber grinste in die Runde, fügte aber nichts mehr hinzu.
„Vielleicht ist er in diesem Fall ja von Vorteil und bringt uns ein bisschen weiter“, gab Franziska zu bedenken, die sofort wusste, was ihr Kollege meinte. „Ich denke nämlich, dass die Frau entweder keine Freunde hatte und man daher über sie sprach, oder dass gerade einer dieser Freunde der Täter war und aus diesem Grund das Handy mitgenommen hat, weil er fürchtete, dort gespeichert zu sein.“ Keiner wollte ihrer These zu diesem Zeitpunkt widersprechen.
„Was wissen wir über die Art der Tötung?“, fragte der Staatsanwalt nach einem Blick auf die Uhr.
„Der Notarzt ging davon aus, dass Frau Weberknecht mit einem flachen Gegenstand einen tödlichen Schlag auf den Hinterkopf bekommen hat. Näheres wird uns hoffentlich bald die Rechtsmedizin in München mitteilen.“
„Sie fahren hin?“
„Ja.“ Sie nickte zur Bekräftigung.
„Wie sieht es mit Spuren am Tatort aus?“ Schwertfeger sah jetzt Annemarie Michl von der Kriminaltechnik an, die die Ermittlungen vor Ort geleitet hatte.
„Nichts. Keine verwertbaren Spuren. Der Täter hatte entweder Handschuhe getragen oder er wusste genau, wie man die Spuren effektiv beseitigt. Die Tatwaffe fehlt ebenfalls.“ Sie warf einen Blick auf ihr Notizbuch, das geschlossen vor ihr lag, und fuhr fort. „Der ganze Tatort war picobello sauber. Wahrscheinlich war sie gerade mit ihrem Herbstputz fertig, als sie getötet wurde. Vielleicht hatte sie auch eine Bakterienphobie. In ihrem Badezimmer und im Nachttisch haben wir jede Menge Vitamin C gefunden und einige Schachteln Cortison.“
„Ich hab mal gelesen, dass Sänger damit ihre Stimme dopen“, warf Hannes ein und Franziska sah ihn verwundert an, nickte dann aber mechanisch.
„Gut. Fürs Erste ist es nicht viel, aber es sind Ansätze da und denen gehen Sie bitte nach. Ich muss sicher nicht extra betonen, welche Priorität dieser Fall hat? Bei einer gesellschaftlichen Bekanntheit wie Sophia Weberknecht haben wir ganz schnell die Medien im Nacken und was das heißt, wissen Sie so gut wie ich.“
Schwertfeger nickte Brauser aufmunternd zu und ging nach einem kurzen Gruß Richtung Tür, dort drehte er sich noch einmal um. „Was ist eigentlich mit den Eltern?“
Alle Augen richteten sich auf Brauser, während es im Raum ganz still wurde. Und tatsächlich bot er sich an, nach Regensburg zu fahren, um mit den Eltern über den Tod ihres einzigen Kindes zu sprechen. Keine begehrte Aufgabe, aber vielleicht wollte er seinem Mädchen wenigstens die unangenehmen Dinge abnehmen, bevor sie lernen musste, ohne ihn zurechtzukommen. Als er gemeinsam mit Schwertfeger zu seinem Wagen ging, spielte ein kleines Lächeln um seinen Mund.
***
Der Mann, der an diesem Morgen allein an dem schmuddeligen Tisch saß und seinen Blick nicht von der Zeitung wenden konnte, mochte Mitte vierzig sein. So genau ließ sich das bei ihm nicht sagen, denn sein Gesicht war gezeichnet von den Spuren eines unsteten Lebens, das von einem üblen Charakter getrieben worden war.
Im Laufe der letzten Jahre hatte er viele Namen getragen, einige länger, manche auch nur für wenige Stunden. Er war ein Meister im Tarnen und Täuschen und am Ende hatte stets er den anderen die Maske vom Gesicht gerissen. Inzwischen trug er teure Jeans und ein Hemd von Armani. Früher war das anders gewesen, aber diese Zeiten lagen lange hinter ihm. Seine Schuhe waren Maßarbeit aus feinstem Leder und noch kaum getragen. Dass er sich das alles leisten konnte, hatte nicht unbedingt mit seinem Arbeitseifer zu tun. Im Grunde war er nur skrupelloser als andere und das schlug sich eben auf seiner Habenseite nieder.
Der Bericht über die tote Sopranistin war das erste, was ihm seit langer Zeit wirklich nahe gegangen war und das machte ihn vielleicht noch wütender als ihr Tod. Seit drei Jahren hatte sie für ihn in den himmlischsten Tönen jubiliert, egal, was alle anderen behaupteten, egal, was die Zeitungen berichteten, sie war sein Engel gewesen. Langsam ließ er seinen Kopf auf das Schwarz-Weiß-Foto sinken und versuchte sich an ihren erregenden Duft zu erinnern. Vor zwei Tagen noch hatte er sie gesehen, hatte sie umfangen, ihre zarte Taille unter dem Stoff ihres Kleides gespürt und voller Genugtuung erlebt, wie sie immer nachgiebiger wurde, immer gieriger, wie sie zu allem bereit war. Wie konnte sie jetzt tot sein? Sie, die immer so voller Leben war! Auf dem Foto lag sie friedlich auf ihrem Bett, es sah alles so unschuldig aus. Wenn nicht all diese Strahler sie beleuchten würden und die vielen geschäftigen Menschen um sie herum so unpersönlich wirkten.
„Am späten Vormittag des gestrigen Tages wurde die beliebte Sopranistin Sophia W. tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Polizei geht von Mord aus, konnte bis jetzt aber noch keinen Hinweis auf einen möglichen Täter ermitteln.“ Seine Stimme war voller Sarkasmus, als er die Sätze geradezu aus sich heraus spie. Immer wieder, immer lauter, bis er sie schrie.
Voller Wut fegte er die Zeitung vom Tisch. Wer immer das geschrieben hatte, hatte sie nicht gekannt, nichts von ihrem wirklichen Leben gewusst. Der Mann schlug mit der Faust auf den Tisch. Es war ein kräftiger Schlag, denn seine Faust schien aus Stahl zu sein. Wehe dem, der sie zu spüren bekam. Nur langsam beruhigte er sich wieder. Er und Sophia waren ein ausgesprochen erfolgreiches Team gewesen. Gemeinsam hatten sie jede Inszenierung mit Erfolg gekrönt. Sie hätten alles erreichen können! Er lachte laut bei dem Gedanken an ihre gemeinsamen Spielchen. Doch jetzt sollte das alles wirklich vorbei sein?
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