„ Lilia, fürchte dich nicht. “
„ Häh? Wieso Lilia? Wer bitte schön ist Lilia?“ Also doch Stoff aus irgendeinem Spielfilm. Obwohl „fürchte dich nicht“ mehr nach einem Psalm klang. Ja, im Analysieren war ich schon immer unschlagbar.
„ Du bist Lilia, Lilia Joerdis van Luzien. “
„Nein, nein und nochmals nein!“, motzte ich mein Spiegelbild an. „Und ganz sicher werde ich niemals, ich betone, niemals wahnsinnig. Keine Fälle in der ausgestorbenen Familie bekannt. Basta!“
Fies kommentierte mein Alter Ego: „Deine Mutter war aber ziemlich wahnsinnig. Vergessen?“
„Schnauze halten im Hinterhirn!“
Die Wirkung meines Wutausbruchs glich einem zerschnittenen Band. „ Gut so, Ruhe im Karton, Thema erledigt.“ Ganz bewusst richtete ich meine volle Aufmerksamkeit auf stupides Zähneputzen, Waschen und Anziehen.
Energisch betrat ich die Küche und klappte das Buch so zu, dass die Rückseite oben zu liegen kam. Schwacher Widerwille regte sich dagegen, weshalb ich genervt die aufgefüllte Teetasse ergriff und schleunigst ins Wohnzimmer verschwand. Plan A musste her, kurz und schmerzlos. „ Also: Den Kopf bei einem Spaziergang zu Joschs Antiquariat gründlich durchpusten lassen, das Buch zurückgeben. Fertig.“ Samstags schloss Josch meist gegen 16 Uhr ab, mithin war noch reichlich Zeit. „ Heute ist doch Samstag, oder?“ Ich ging in die Küche, um die Tasse aufzufüllen, und warf dabei einen Blick auf den Wandkalender. „Sonntag. Dann eben bloß der Spaziergang“, seufzte ich leise. Ein leichtes Unbehagen im Gefühlszentrum namens Bauch begann sich hartnäckig festzusetzen.
Frostige Kälte schlug mir ins Gesicht. Ziellos ließ ich mich durch die nahen Straßen treiben – und stand höchstens fünfzehn Minuten später wieder vor meiner Wohnungstür. Schlecht. „Ach was, mit mehr Tee, Frühstück und gutem Willen lässt sich jedes Problem lösen.“ Nüchtern betrachtet schmorte ich zu sehr im eigenen Saft und das hatte offensichtlich meine Nerven überreizt. Als ein von Natur aus eher ängstlicher, introvertierter Typ zeigte ich wenig Vorliebe für zwischenmenschliche Kontakte. Stundenlange Spaziergänge durch einsame Wälder oder entlang möglichst menschenleerer Küsten, klassische Musik und dicke Schmöker, sie entsprachen in meinen Augen grenzenlosem Freizeitglück. „ Könntest du endlich mal zum Thema kommen?“ , verlangte mein Alter Ego. „Das Buch?“ „Richtig.“ „Der Gesang?“ „Korrekt.“ „Das Licht?“ „Und so. Also tritt dich mal in deinen nicht mehr ganz so hübschen Hintern“, zeterte die Meckerecke vom Dienst.
Ungebeten bekam ich sphärische Unterstützung.
„ Lilia, bitte hilf uns. Lies das Buch.“
Hatte ich doch schon, zumindest einen kleinen Teil davon. „Oder?“ Seltsamerweise wollte sich keine greifbare Erinnerung an den gelesenen Abschnitt einstellen. Mehr ein Gefühl von Bedrohung, Kampf und Verlust.
Mit jeder verstreichenden Minute schwoll der Sog des Buches an. Er war um ein Vielfaches stärker als jeder nervenaufreibende Thriller, bei dem man mitten im Showdown gezwungen wurde, ihn aus der Hand zu legen. Folgerichtig schaltete ich mechanisch die Esstischlampe ein und setzte mich abermals an den Küchentisch.
Auf seiner safranfarbenen Vorderseite starrten mich Hieroglyphen an. Zugegeben, augenblicklich breitete sich Enttäuschung in mir aus. Hartnäckig starrte ich zurück. Sie begannen ihren flirrenden Tanz. „Das Licht kann ohne Schatten nicht sein“ erschien vor meinen Augen. Enttäuschend unspektakulär, der Buchtitel, regelrecht banal. „ Obwohl, eine alte, häufig benutzte Redewendung lautet doch: Wo Licht ist, da ist auch Schatten.“ Grübelnd griff ich nach meiner Tasse. „Wie geht noch gleich der andere Spruch?“, murmelte ich leise. „Gut und Böse liegen oft eng beieinander?“
„ Lies das Buch, du wirst Antworten finden“, schmeichelten die Stimmen.
Allerdings war ich mir gar keiner gestellten Frage bewusst. Stattdessen stiftete ihr heikles Gequatsche meinen Dickschädel um Haaresbreite dazu an, ihr Buch aus dem Fenster zu pfeffern. Das schimpft sich geistige Selbstverteidigung.
„Das Licht kann ohne Schatten nicht sein“, Teil I:
Zu Anbeginn der Zeit gebar das Universum Zwillinge, das Licht und die Finsternis. Obwohl grundverschieden, verstanden die beiden einander gut. Doch als sie älter wurden, beanspruchte ein Jedes immer mehr Raum für sich. Sie drängelten und suchten, noch freundschaftlich, bis sie in die hintersten Winkel des Universums vorgedrungen waren. Derart mächtig und groß geworden, breitete sich nun Langeweile bei ihnen aus. Bald schon nahmen die Zwillinge getrennte Wege. Während das Licht mit den Sternen spielte, brütete die Finsternis übellaunig vor sich hin.
Ein Stern hatte es dem Licht besonders angetan, dort lebten Wesen in vielerlei Arten. Gerne wollte es diesen einen Stern für sich allein besitzen. So verdrängte es heimlich die Schatten der Finsternis von dort.
Grausam waren die Folgen! Das Wasser verdampfte, die Luft glühte, die Wesen litten schlimme Qualen und viele starben. Das Licht wich voller Entsetzen, Trauer und Scham zurück.
Der Finsternis war das heimliche Treiben beileibe nicht entgangen und das grausige Ergebnis verschaffte ihr große Genugtuung. Mit Macht breitete sie sich nun allein über den Stern aus.
Aber genau wie das Licht musste die Finsternis erfahren, dass der Stern unter ihrer Allmacht starb. Sie beobachtete das elendige Siechen mit unverhohlener Neugier. Endlich flehte ihr Lichtzwilling, dem Leid gemeinsam ein Ende zu bereiten. Die Finsternis gab nach.
Nun aber herrschte Misstrauen zwischen den Zwillingen, weshalb die Finsternis den kalten Mond um ewige Wacht bat. Das Licht hingegen wählte die wärmende Sonne mit ihren goldenen Strahlen.
Zwar gab sich die Finsternis fortan versöhnlich, schmiedete jedoch insgeheim Pläne. Es dürstete sie nach Vergeltung. Der Menschenseelen auf dem Stern wollte sich die Finsternis bemächtigen, jener einzigen Wesen, die ihr mit großer Furcht begegneten.
Obwohl das Licht dieses schreckliche Geheimnis gewahrte, zögerte es lange. Hatten doch die menschlichen Geschöpfe zuerst das Licht fürchten gelernt. Grausam wurden die Menschen in den brutalen Bann der Finsternis gezogen. Sie hetzten sich gegeneinander auf und führten Kriege. Denn Neid und Missgunst, Hass und Selbstsucht, Wut und Mordgelüste vergifteten ihre Herzen.
Da das Licht aus falscher Scham nichts dagegen unternahm, sprachen andere Sterne bekümmert zu ihm: „Wir wollen dir Sternelben geben, sie sollen die Menschen mit neuer Hoffnung und Freude erfüllen.“
„ B loß ein Märchen, unzählige Male in hundert verschiedenen Varianten erzählt. Was für eine Enttäuschung.“ Ich gähnte herzhaft.
„ Lilia, das ist kein Märchen.“
„ Na ja, Gut und Böse existieren natürlich wirklich. Und weil sich Menschen nun mal vor der Dunkelheit fürchten, verkörpert sie immer das Böse, logisch.“
„ Sekunde mal“, stutzte ich. „Kleine Denkpause einlegen. Also dieser Chor in meinem Kopf, soll ich mich mit dem ernsthaft unterhalten? Ich könnte versuchen ihn auszutricksen, quasi den OFF-Knopf suchen.“ So wie ich manchmal gerne eine Fernbedienung für die nervende Dudelei in diversen Geschäften hätte. Oder sollte ich vielleicht mal im Lexikon unter dem Stichwort „Schizophrenie“ nachlesen? „ Übertreib nicht.“ Dann also die hohe Schule der Konversation? Umgehend brach ein kämpferischer Schlagabtausch zwischen Kopf und Bauch los, den mein Hirn knapp für sich entschied. Tiefem Luft holen folgte ein trotzig gedachtes „ Hallo“ .
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