Kurzum, ich wickelte das Buch mangels Tüten in alte Zeitungen und zog mich an. Aber ich konnte Josch unmöglich bloß ein bisschen Kleingeld für dieses Prachtexemplar in die Dose stopfen. Vielleicht sollte ich eine Nachricht hinterlassen. „ Auf der bitte was stehen soll? Habe ein Buch mitgenommen, Autor, Titel, Alter und Herkunft unbekannt?“, lästerte mein Alter Ego genüsslich. Nein, ich würde das Buch ganz einfach bei meinem nächsten Einkauf zurückbringen.
Zufrieden verschwand meine unsichtbare Zuschauerin, als sich die Ladentür bimmelnd hinter mir schloss. Der ausgelegte Köder war geschluckt.
Lange Zeit später fand ich im schottischen Kloster St. Ninian ein dickes Notizbuch mit dem Titel „Inghean“. Darin befanden sich Aufzeichnungen der Elbe Elin. Sie brachten hartes Licht in manche noch dunklen Ecken dieser wahrheitsgetreu zu erzählenden Geschichte.
Aus dem Buch „Inghean“
Wieviele Jahre sind nutzlos verronnen, seit ich mich zum letzten Mal diesem Menschenkind zeigte? Mir fehlt die Erinnerung. Graue Tage und schwarze Nächte vergingen, zu endloser Untätigkeit verdammt. Meine Seele schmachtet nach Rache an dem Einen. Nun jedoch wurde das Menschenkind abermals erwählt. Warum nur? Warum verschmäht die Fürstin unsere willigen Elbenseelen? Dienerin und Lehrerin zugleich werde ich jetzt sein, um den Kelch für die Ankunft meiner Fürstin zu formen. Das Licht stehe mir bei!
Das zauberhafte Buch lag auf dem Esstisch, während ich ungeduldig den sich träge erhitzenden Wasserkessel abwartete. Hier unter dem Küchenfenster fiel noch genügend trübgraues Winterlicht ein, um auf die Deckenlampe verzichten zu können. „ Was hat dieses Buch nur an sich?“ Antiquitäten entzogen sich schon immer meinem Interesse. „ Geheimnisvoll.“ Mir kam eine Idee und ich flitzte los zum Bücherregal im Wohnzimmer. Vielleicht fand sich im alten Lexikon eine Seite über Schriften.
Noch bevor ich den entsprechenden Band Sai - Suc aufschlagen konnte, pfiff mich der Wasserkessel zurück. Der Tee musste erst ziehen, also drehte ich mich wieder um. Das mitgebrachte Buch leuchtete! Das Lexikon geriet in Vergessenheit. Ein schmaler Lichtstrahl fiel auf die Schrift. Mein irres Glotzen dauerte exakt 2 Minuten und 40 Sekunden, bis das schrille Piepen der Tee-Uhr gnädig die entglittenen Gesichtszüge in Bewegung brachte.
Vielleicht wäre der Anfang für mich leichter geraten, wäre mein Blick diesem ersten Lichtstrahl nach draußen gefolgt. Nämlich in Erwartung einer Wolkenlücke, die der tief stehenden Wintersonne eine freundliche Chance gab. Denn da draußen gab es keine Lücke, keinen Sonnenstrahl, nur Einheitsgrau. Andererseits wäre der Anfang garantiert erheblich schlimmer missraten, hätte ich meine unsichtbare Untermieterin aus Joschs Laden zurückkehren sehen. Nachdem die Elbe Elin einst Wächterin über meine Kindheit war, startete mit dem heutigen Tag ihr Fulltimejob bei mir.
Was war zuerst da, das Summen in meinem Kopf oder das mich umhüllende Licht, als ich auf dem Küchenstuhl saß und mich über das Buch beugte? Keine Ahnung, die ersten Stunden und Tage wirken im Rückblick wie das Ergebnis eines übergeschnappten Schleudergangs in sämtlichen Gehirnwindungen.
Erfolglos drückte ich jetzt die Zeigefinger in beide Ohren. Aus der Wohnung stammte das Summen jedenfalls nicht.
„ Es ist in deinem Kopf. “
„ Einfach ignorieren und endlich das wundersame Werk bestaunen. “
Entschlossen richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den Einband. Das Summen nahm zu. „ Nein, kein Summen“ , überlegte ich, „ zumindest nicht wie ein Bienenschwarm“. Es klang eher wie ein von Windböen herbei getragenes Auf und Ab singender Frauenstimmen. Wahrscheinlich die Begleitmusik zu irgendeinem Spielfilm, die mein Gedächtnis aus welchem Grund auch immer gerade jetzt abspulte.
„ Es ist real. “
„ Quatsch. “
Vorsichtig klappte ich den Buchdeckel auf. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, als wollten sie sich für mich neu ordnen. Ich blinzelte. Und las. Und lauschte.
„ S eltsamer Traum.“ Aber warum lag ich nicht in meinem Bett und wo war ich überhaupt? Bleierne Müdigkeit blockierte vernünftige Informationen aus dem Gehirn. Die Augen ließen sich auch nur widerspenstig öffnen . „Aha.“ Der schräge Blickwinkel offenbarte, dass ich mit Kopf und Armen auf dem Küchentisch lag, folglich über dem Buch eingeschlafen sein musste. So etwas passierte mir sonst nie. „ Und dieser Traum über Licht und Finsternis und ihren Kampf gegeneinander seit Anbeginn der Welt. Purer Fantasy-Stoff, darüber ließe sich glatt ein ganzes Bu…“ Ich erstarrte mitsamt meinem Gedankengang und weigerte mich, das Szenario in der Küche zur Kenntnis zu nehmen. Unmöglich, dies musste immer noch ein Traum sein. Draußen herrschte tiefe Nacht, hier drinnen brannte keine Lampe, aber um mich herum war Licht. „ Der Mond, natürlich!“ Erleichtert über die simple Erklärung suchte ich den Nachthimmel ab. Kein Mond. „ Ich träume, ganz einfach. Und wenn nicht? Dann drehe ich jetzt ein klein wenig durch. “
„ Es ist wahr. “
Hatte ich das gedacht?
„ Nein. “
„ Aufwachen! “
„ Du bist erwacht. “
Panik und Angst lieferten sich in Atem raubendem Tempo ein Kopf-an-Kopf-Rennen, brachten den Küchenstuhl zu Fall, ließen erst meine linke Schulter rücksichtslos gegen den Türrahmen krachen, wenige Schritte später das linke Schienbein gegen die Bettkante. Mit kindlicher Naivität sprang ich ins Bett und riss mir die Bettdecke bis über den Kopf. Dann flossen die Tränen. Erst zaghaft, bis schließlich verzweifeltes Schluchzen meinen ganzen Körper schüttelte.
Irgendwann war alles Elend dieser Welt, insbesondere das meinige, hinaus gespült und ich schlief ein. Den Strahl weißen Lichts, gekommen, um über mich zu wachen, verpasste ich.
Dröhnende Kopfschmerzen begrüßten mich am sehr späten Vormittag. „ Welcher Tag ist heute?“ Wochentage, Geburtstage, Telefonnummern oder Adressen? Komplett unterhalb meiner Aufmerksamkeitsschwelle angesiedelt. Tatsächlich gehörte ich zu jenen bemitleidenswerten Kandidaten, die ihre Geheimzahlen in der Geldbörse aufbewahren mussten.
Übellaunig kletterte ich aus dem Bett, um gewohnheitsgemäß erst Tee zu kochen. Danach schlurfte ich ins Bad. Mein Spiegelbild präsentierte dick verquollene Augen. Eine saftige Ohrfeige hätte mein Erinnerungsvermögen kaum effektiver wachrütteln können. „ Ganz ruhig, tief durchatmen. Ich bin keineswegs verrückt, sondern eine ganz normale Durchschnittsfrau im Durchschnittsalter mit Durchschnittsgewicht, die vorzugsweise Jeans, Baumwollpullover und bequeme Schuhe trägt.“ „Lenk jetzt nicht vom Thema ab“ , protestierte mein Alter Ego. Ratlosigkeit schwappte heran. Diese träge, anspruchslose Empfindung vermittelte mir aus welchem Grund auch immer das sichere Gefühl, mit den nackten Füßen fest auf den kalten Fliesen zu stehen. Und wie lange, verdammt noch mal, wollte ich das Summen in meinem Kopf ignorieren?
„ Was nun eigentlich, Summen oder Singen?“ Vorsichtig hörte ich genauer hin. Sphärisch schön, oh, aber unterirdisch schwer zu beschreiben. Das mag dieser klägliche Versuch verdeutlichen: Wie Polarleuchten über dem samtroten Sonnenuntergang der Karibik, begleitet von Kaskaden silbriger Sternschnuppen. Eine sanfte, vielschichtige, wärmende Harmonie, zugleich traurige, sehnsüchtige Frauenstimmen. Eindeutig nicht von dieser Welt. „ Höre ich Worte?“ Ganz gewiss erst in dem Moment, da sich die Frage in meinem Kopf formulierte.
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