Am sechsten Januar ist die Stube bei der Familie Wolf gefüllt. Am Radio wird der Boxkampf von Max Schmeling um die Europameisterschaft übertragen. Das ist natürlich für Männer ein Grossereignis. Der Jubel ist gross, als der Reporter den Sieg von Max verkündet, der Gegner liegt am Boden.
Eine kleine Episode am Rand trübt die Stimmung bei Franz. Ein Nachbar ist wieder gegangen, als er bemerkte, dass die Goldbergs in der Stube sitzen und die Übertragung mitverfolgen.
«Was hatte der?», will Rosa wissen.
«Der will nichts mit Juden zu tun haben.»
«Warum?»
«Das ist einer von diesen Nationalsozialisten, die halten sich für etwas Besseres. Jetzt kommen sie auch nach Worms, ich dachte, die gibt es nur in München.»
«Sind die gefährlich?»
«Ich denke nicht», meint Franz, «das ist nur so eine Modeerscheinung, die haben kein Programm, sie sind nur gegen alles.»
Damit ist das Thema vergessen, schliesslich muss der Sieg von Max gefeiert werden. Sein Biervorrat schmilzt, aber er reicht.
«Das Radio kommt uns langsam teuer zu stehen», bemerkt Rosa beim wegräumen der Bierflaschen, «ich bin heil froh, dass sich keiner übergeben musste».
«Wegen ein paar Flaschen Bier, das macht doch nichts. Die Feier war auf jeden Fall lustig.»
«Schon gut, ich meine ja nur.»
«Manchmal muss man investierten», meint Franz, «ich will für den Stadtrat kandidieren und ein solcher Abend bringt Stimmen.»
«Hast du zu wenig Arbeit?»
«Bedenke, du bist dann Frau Stadtrat, das tönt doch gut oder.»
«Wenn es den sein muss, meinetwegen.»
«Die Wahlen sind erst im Mai, die im Schachklub haben mich gefragt. Die Liberale Partei braucht noch ein paar Kandidaten, vier bisherige treten nicht mehr an.»
Rosa spielt die entrüstete, doch insgeheim ist sie mächtig stolz auf ihren Franz.
Die nächsten Wochen machte Franz Wahlkampf. Er zeigt sich in den Kneipen des Quartiers. Seine Aufgabe ist es, die Wähler in seinem Quartier zu gewinnen. Gar nicht so einfach, denn er ist nicht der typische Kneipengast. Er beginnt sehr vorsichtig und hört nur zu, bis er langsam herausfindet, was die Leute hier bedrückt.
Ein Thema ist der kalte Winter. Noch nie war es in Worms so kalt wie im Februar 1929. Am Fastnachtsdienstag sank das Thermometer auf minus 24 Grad. Der Rhein hat schon eine dünne Eisschicht und friert schliesslich ganz zu.
Schiffe werden im Eis eingeschlossen und müssen frei gesprengt werden. Nachdem das Eis so fest geworden ist, dass man es ohne Gefahr betreten kann, trifft sich die Bevölkerung auf dem Rhein. Es herrschte Volksfeststimmung. Man kann zu Fuss auf die andere Flussseite flanieren. Der Rhein zieht viele Leute aus der Umgebung an. Das darf man nicht verpassen, das erlebt man nur einmal im Leben. Der gefrorene Rhein ist das einzig Interessante in diesem kalten Winter. Die Leute frieren und sie müssen viel mehr Geld zum Heizen der Wohnung ausgeben. Die Stadt hatte mit geborstenen Wasserleitungen zu kämpfen. Ausgaben die so nicht vorgesehen waren.
Rosa sehnt die Wahlen herbei. Franz kommt zu oft leicht betrunken nach Hause. Als sein Name offiziell auf der Liste der Liberalen Partei auftaucht, muss er auch einige Runden bezahlen, das geht ins Geld. Diesmal muss er sich die Dividenden auszahlen lassen, sonst hätte er Rosa das Haushaltsgeld noch mehr kürzen müssen.
An Versammlungen seiner Partei hält er Vorträge über die Stadtfinanzen und welche Projekte unbedingt bevorzugt werden müssen. Dabei kommt er oft in einen Notstand. Was die Bürger in den Kneipen wollen, entspricht nicht dem, was die Parteiführung hören will. Die müssen ihre grössten Spender bei Laune halten. Deshalb prüfen sie sein Manuskript vor jedem Vortrag. Zum Glück sind an den Parteiveranstaltungen nie die Leute aus den Kneipen dabei, so kann er die Parteilinie ohne Widerspruch vertreten.
Die wichtigsten Streitfragen sind, ob man die traditionelle Lederindustrie weiter begünstigen will? Die Lederverarbeitung gerät durch neue Materialien immer mehr in einen harten Konkurrenzkampf. Die Bauern wünschten sich einen besseren Hochwasserschutz. Ihre Felder werden regelmässig überschwemmt und es gibt einige, die meinen, dass selbst die Stadt nicht mehr vor Hochwasser sicher ist. Da müssen einige Stadträte lachen. Worms gibt es seit über tausend Jahren, da ist noch nie was passiert. Die Bauern verweisen auf die bedenkenlos Abholzung der Wälder, welche deshalb ihre Schutzfunktion nicht mehr wahrnehmen können. Diese Leute werden als Schwarzseher abgekanzelt. Die Gelder kann man besser in der Erschliessung einer neuen Industriezone investieren. Es gibt Interessenten aus der chemischen Industrie, welche in Worms ein neues Werk errichten möchten. Chemisch Industrie, das hat Zukunft, da sind sich alle einig. Deshalb ist ein Projekt welches das Industrieland, durch einem Kanal mit dem Rhein verbinden soll, das Lieblingsprojekt der meisten Parteifreunde. Zumindest in diesem Punkt dürfte er Unterstützung in der Kneipe finden, denn Industrie bedeutet Arbeitsplätze und die kann man gut brauchen. Wenn dadurch noch die Aktien der Eigentümer steigen, profitiert er noch zusätzlich.
Der Kampf um die freien Stadtrat Sitze geht im Wahlkampf um die Reichstageswahl unter. Dieser Wahlkampf dominiert in den Zeitungen und natürlich auch am Radio. Die NSDAP nützt das Radio für ihren Wahlkampf. Franz hat vorgeschlagenen ebenfalls im Radio Aufrufe zu bringen, doch die Parteileitung ist dagegen. Es fehle ein Konzept und auch Geld ist nicht vorhanden. Erst drei Wochen vor dem Abstimmungstag versuchen sie, bei einer Radiostation eine Diskussionsrunde direkt zu übertragen. Doch die Radiostation winkt ab, alle freien Termine sind von der NSDAP belegt, da sei nichts zu machen.
Mit jedem Tag den die Wahl näher rückt, sinkt die Zuversicht von Franz. Täglich hört er, was die Nationalsozialisten ihren Wähler versprechen. Da kann das eigene Programm nicht mithalten.
Der Wahltag ist eine riesige Enttäuschung. Seine Partei verliert mehrere Sitze, so dass selbst zwei bisherige Stadträte nicht wiedergewählt wurden. Rosa hatte grosse Mühe, Franz wieder aufzupäppeln. Durch die neue Parteienverteilung gerät auch seine Stelle als Steuerbeamter ins Wanken. Noch ist er angestellt und die neuen Mitarbeiter respektieren ihn, sie sind auf sein Fachwissen angewiesen.
Für Willi ist der Wahlausgang eine Katastrophe. Die Mitschüler hänseln ihn, er verliert gewaltig an Ansehen. Ab jetzt hält nur noch Joshua zu ihm. In den Pausen sitzen die beiden meistens hinter einem dicken Baum im Schulhof. Das Absondern hatte nicht nur negative Folgen, jetzt konzentriert er sich voll auf die Schule. Seine Noten werden noch besser. Dass er das Abitur schafft, steht ausser Zweifel. Bis zur Prüfung sind es noch gut zwei Jahre.
Im Unterricht ist es nicht einfach. Die Rädelsführer der Klasse versuchen ihn bei jeder Gelegenheit lächerlich zu machen. Dank der Unterstützung der Mitläufer gelingt es meistens. Die Lehrer haben wenige Möglichkeiten einzugreifen, die Rädelsführer sind nicht dumm und wissen genau, wie weit sie gehen dürfen.
Im Mai ist der Name Nobile in aller Munde. Sein kühner Plan, mit einem Luftschiff zum Nordpol zu fliegen, ist das grosse Ereignis. Das Radio berichtet bereits über die Vorbereitungen. Natürlich hätten die deutschen Reporter lieber, wenn Nobile ein Deutscher wäre, doch Nobile wird von Mussolini grosszügig unterstützt. Schon lange schielen die Mitglieder der NSDAP, welche am Radio die Führung übernommen haben, nach Italien und bewundern die kompromisslose Art, wie Mussolini die Massen begeistert. In Deutschland ist alles nicht so einfach.
Am 23. Mai ist es soweit. Das Luftschiff Italia hebt in Spitzbergen ab und steuert auf Kurs Nord. Wieder müssen sich die Hörer gedulden. Nobile hat ein Kurzwellensender an Bord, doch will er ihn nur im Notfall benutzen. Die Reporter auf Spitzbergen können ausser technischen Daten nichts Aktuelles melden. Trotzdem verfolgt ganz Europa, was die Reporter aus Spitzbergen berichten.
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