Noch sind wir in der ersten, aufregendsten Phase der Liebe, sie ist noch keine richtige Liebe, sondern nur „verliebt sein“. Man glaubt schon, den Partner fürs Leben gefunden zu haben. Aber man kennt einander noch lange nicht genug und muss deshalb schrittweise immer mehr voneinander entdecken. Dazu gehört natürlich, dass jeder sich vom Partner entdecken lässt, sich ihm öffnet. Dann wird das Sprichwort „Liebe macht blind“ ungültig.
Jede Verliebtheit hat das Ziel, in eine tiefe Liebe zu münden, denn kein Lebewesen will allein sein, es sucht dauerhaft das zweite Ich, mit dem es sich bedingungslos verbinden kann. Wenn sich der Sturm der ersten Leidenschaft gelegt hat, beginnt die zweite Phase, der Übergang vom „verliebt sein“ zur richtigen Liebe. Das ist ein langer Prozess der Prüfung, auch Selbstprüfung mit Fragen, kritischen Betrachtungen und Zweifeln. Hier ist der Verstand gefordert, man muss ehrlich mit sich selbst sein, auch auf die Gefahr hin, dass der Kopf das Gefühl nicht bestätigt. Eine glückliche Gemeinschaft ist nie selbstverständlich.
Nur wenn man sicher ist, dass der geliebte Mensch für eine lebenslange Gemeinschaft der Richtige ist, darf man „ja“ zur ganzen Partnerschaft mit ihm sagen, sich auch die die körperliche Liebe gestatten. Diese ganz enge und innige Hingabe mit Körper und Seele, das „Erkennen“ des geliebten Menschen, wie die Bibel sagt, im unverfälschten Zustand höchster Erregung ist der Höhepunkt, die vollkommene Bestätigung jeder Liebe. Nichts ist mehr wie vorher, wenn man einander in diesem Moment „erkannt“ hat. Auf dieses Ereignis steuert in der gesamten Tierwelt, also auch wieder beim Menschen die Werbung um den geliebten Partner hin. Und wie bei den Tieren darf auch bei uns Menschen ausschließlich die Frau bestimmen, ob sie zu diesem letzten Schritt bereit ist. Nur wenn auch sie es mit allen Fasern will, wird es für den Mann immer wieder zu einem überwältigenden Erlebnis.
Im Gegensatz zu den meisten Tieren ist diese Vereinigung beim Menschen zwar ein wichtiges und schönes, aber lange nicht das einzige Element der Liebe. Ständige Aufmerksamkeit für den Partner, Opferbereitschaft, füreinander da sein, Abgleich der Wünsche und Interessen sind ebenso wichtig. Nur daraus kann eine Liebe erwachsen, die außer dem Körper auch die Seele und den Geist umfasst.
Sollte es trotzdem nach der innigen Vereinigung irgendwann zu einer Trennung kommen, hinterlässt die Erinnerung an dieses große gemeinsame Erleben bei jedem Partner Spuren, die nur mit Schmerzen und Herzblut ausgelöscht werden können. One-night-stands sind damit nicht gemeint.
Wenn aber dann beide die richtige Liebe erreicht haben, beginnt die dritte, schwierigste Phase, das miteinander Leben, wo die Liebe die Probleme des Alltags überwinden muss. Dass zwei Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und zumindest teilweise unterschiedlichen Interessen ständig zusammen leben, ist eigentlich eine Unmöglichkeit. Denn wenn die beiden sich immer besser kennen lernen, werden nicht nur die Gemeinsamkeiten deutlicher, sondern auch die Unterschiede. Da gilt es, nicht zu resignieren, sondern umeinander zu kämpfen, sich zu verständigen, aber nicht klein beizugeben oder auf dem Eigenen zu beharren. Das ist nicht einfach. Missverständnisse entstehen, unbeabsichtigte Kränkungen, auch das Gefühl von unverstanden sein. Nur tiefe Liebe kann das alles überwinden, damit die Gemeinschaft nicht nur bestehen bleibt, sondern immer fester wird. Verzeihen ist ein Muss in solcher Gemeinschaft. „Liebende leben von der Vergebung“ heißt ein Buchtitel von Manfred Hausmann.
Liebe ist geben und nehmen, zuhören und verstehen. Wie bei allen Dingen im Leben geht es auch in der Liebe bergauf und bergab, ist es laut und leise, gibt es Sonne und Schatten. Und man muss dem Partner immer wieder sagen und zeigen, wie sehr man ihn liebt. Liebe ist Leben. Und was lebt, will gepflegt, behütet und beschützt sein. Kleine Überraschungen, kleine Aufmerksamkeiten können dem geliebten Menschen zeigen, wie sehr wir ihn lieben und wie wichtig er uns ist. Das ist eine lebenslange Aufgabe und nur sie erhält die Liebe.
In den folgenden Kapiteln verbinden kleine Geschichten die Verse des Gedichtes mit realen Erlebnissen. In einigen dieser Geschichten mündet die Liebesbeziehung in eine Ehe, die die Liebesgemeinschaft offiziell bestätigt. Seit etwa 150 Jahren hat sich in den westlich orientierten Ländern die Liebesheirat durchgesetzt, nachdem früher, wie in anderen Ländern noch heute üblich, die Ehen von den Eltern nach familiären oder finanziellen Kriterien arrangiert und dadurch oft unglücklich wurden. Eheschließungen nehmen inzwischen wieder zu, nachdem lange eher unverbindlich zusammen gelebt wurde. Leider werden viele Ehen oft schon im Stadium der Verliebtheit geschlossen und bald wieder geschieden. Der Satz aus Schillers Glocke sagt genug darüber:
Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
ob sich das Herz zum Herzen findet!
1 „Zwei Seelen und ein Gedanke, Zwei Herzen und ein Schlag!“
Liebende bemerken oft erstaunt, dass sie im selben Moment das Gleiche denken. Zweifellos gibt es Schwingungen zwischen ihnen, die physikalisch nicht erklärbar sind. Und wenn sich die Liebenden ganz nahe sind, schlagen auch ihre Herzen im selben Takt.
Gleichklang
Der Student Stephan Hewel hat für ein Wochenende ein Zimmer in Braunlage gebucht und ist angenehm überrascht, als ihn die Tochter der Wirtin empfängt. „Ich heiße Bärbel Schüssler, herzlich willkommen bei uns. Meine Mutter kommt später, sie arbeitet in der Gemeindeverwaltung“, sagt sie mit warmer Stimme und zeigt ihm sein Zimmer. Verstohlen mustert Stephan die hübsche Frau, die etwa in seinem Alter sein muss. Sie hat lange blonde Haare mit einem Pferdeschwanz und ein freundliches Gesicht. Im Hausflur findet Stephan einen Hinweis auf einen Tanzabend Samstag Abend in der „Tenne“ und fragt die junge Frau verlegen, ob sie mitkommen würde. Als sie zustimmt, freut er sich.
Samstag steht Stephan früh auf und verbringt den ganzen Tag auf dem Wurmberg, abends geht er mit Bärbel tanzen. Auf dem Heimweg plaudern die beiden über alles Mögliche und Stephan fühlt sich von ihr angetan. Sonntag lernt er beim Bezahlen die freundliche Mutter kennen, doch mehr bewegt ihn, dass Bärbel ihn aus ihren blauen Augen herzlich anschaut. Er möchte ihre Hand am liebsten gar nicht wieder loslassen. Auf der Heimfahrt geht sie ihm nicht aus dem Sinn. Montag schreibt er ihr einen Brief, über den er lange nachdenkt:
Hamburg, den 17. 1. 2011, Liebe Bärbel,
ich möchte mich bei Ihnen und Ihrer Mutter noch einmal herzlich bedanken für die freundliche Aufnahme in Ihrem Haus, aber vor allem für den netten Tanzabend mit Ihnen. Es war mein erster Tanz seit über einem Jahr, weil ich wegen einer schweren Enttäuschung so lange kein Mädchen in den Arm nehmen mochte. Bei Ihnen war das nun ganz einfach und wunderschön. Und weil das so ist, möchte ich die Verbindung mit Ihnen gerne aufrechterhalten. Dafür muss ich allerdings etwas mehr über Sie wissen, bitte entschuldigen Sie meine aufdringliche Neugier.
Sie sind zwar mit mir tanzen gegangen, aber ich weiß nicht, ob Sie irgendwie gebunden sind und ob Sie den Kontakt mit mir überhaupt wollen. Schenken Sie mir doch bitte irgendwann Klarheit, ganz egal, wie sie ausfällt.
Herzliche Grüße, auch an Ihre Mutter, Stephan
Braunlage, den 12. 2. 2011, Lieber Stephan!
Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihren Brief erst jetzt beantworte. Aber wir sind mitten in der Saison und da habe ich immer wenig Zeit. Und ich musste mir auch erst darüber klar werden, ob ich Ihre Fragen überhaupt beantworten will. Doch ich meine, dass sie ein Recht darauf haben:
Nein, ich bin nicht gebunden und ja, ich habe mich über Ihren Brief gefreut und möchte den Kontakt aufrechterhalten. Puh, das ist mir schwer gefallen, denn ich öffne mich nur ungern. Nehmen Sie es als Zeichen, dass ich Sie mag.
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