Hans fühlte sich an den Tag zurückversetzt, an dem er im Büro des Schuldirektors saß und die schreckliche Nachricht erhalten hatte. Der Vater war tot. Sein Vater, der ihm immer ein großes Vorbild gewesen war und in dessen Fußstapfen er einmal treten wollte. Hans hatte auf dem einfachen Holzstuhl gegenüber dem Direktor gesessen und versucht, die Tränen zurückzuhalten. Er wusste nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Seine Mutter hatte ihn mit tränenunterlaufenen Augen in den Arm genommen und Hans spürte die Leere, die damals plötzlich in der Wohnung herrschte, genauso wie die Leere in seinem Körper. Der Tod seines Vaters hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Er wurde schweigsam, sprach fast nichts mehr und zog sich von seinem Freundeskreis zurück. Seine schulischen Leistungen ließen spürbar nach und er konnte froh sein, dass zu diesem Zeitpunkt die wichtigsten Klassenarbeiten schon geschrieben waren. Dadurch war seine Versetzung in die nächste Klasse nicht gefährdet.
Dieter war der große Rückhalt für Hans gewesen. Obwohl Dieter in Dresden wohnte, besuchte er Hans regelmäßig in Berlin und blieb die gesamten Sommerferien bei ihm. Es war nicht leicht für Dieter, ihn zu Veranstaltungen und Ausflügen mitzuschleifen, mit denen er versuchte, Hans wieder in das Leben zurückzuführen. Anfänglich widersetzte sich Hans vehement, doch ließ sein Widerstand gegen Ende der Ferien endlich etwas nach. Er ging jetzt zwar bereitwilliger mit Dieter aus, blieb dabei aber weiterhin ziemlich teilnahmslos.
Das folgende Schuljahr war schwer. Dieter reiste nach den Ferien wieder zurück nach Dresden, hielt aber, so oft es ging, Kontakt zu ihm. Er versuchte Hans Interesse an der Raketentechnik, das ebenfalls völlig versiegt war, wieder zu wecken. Dieters unermüdlichem Einsatz war es zu verdanken, dass Hans den Abschluss der Schule schaffte. Dieter gelang es, mithilfe der Beziehungen seines Vaters, einen Studienplatz für sie beide an der Technischen Hochschule in Dresden zu bekommen. Im Herbst 1932 begannen sie ihr Studium der Luftfahrttechnik. Der Wechsel zurück nach Dresden hatte spürbare Auswirkungen auf Hans. Die Vertrautheit mit der Stadt, in der er aufgewachsen war, die vielen Bekannten aus seiner Jugendzeit sowie der Umgang mit den Kommilitonen, die es verstanden, ausgiebig zu feiern, ließen ihn den schrecklichen Tod seines Vaters mehr und mehr verdrängen. Schon bald war Hans einer von vielen Studenten an der Hochschule, dessen wiedergewonnene Begeisterung an der Luft- und Raumfahrttechnik ihn die einzelnen Semester mit Bestnoten abschließen ließ. Er hatte sich vorgenommen, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen und so bereitete er sich gewissenhaft auf die Prüfungen vor. Schlagartig trat seine Begeisterung für die Luftfahrttechnik 1937 in den Hintergrund, als er Elisabeth kennenlernte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen und brachte Hans mehrfach Ärger mit Julius ein. Julius Brenner war ein ehrgeiziger SS-Mann und zu diesem Zeitpunkt der Freund von Elisabeth gewesen. Hans traf sich ein paar Mal heimlich mit ihr, bis sie zwei Wochen später die Beziehung zu Julius offiziell beendete, was Hans neben einem Schwur auf ewige Rache auch zwei blaue Augen einbrachte.
Ihre Beziehung festigte sich und so fiel ihnen die Trennung im Herbst 1937, als Hans und Dieter als Jahrgangsbesten ein Angebot der Wehrmacht für die Forschung und Entwicklung neuer Waffensysteme in Peenemünde annahmen, extrem schwer. Doch das war die Chance für Hans, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen. Die wenigen Möglichkeiten, sich im Urlaub oder den seltenen, verlängerten Wochenenden zu treffen, verliefen entsprechend heftig und so war es Ende 1938 gewesen, als Elisabeth ihm mitteilte, dass sie schwanger war. Bevor ihr Sohn auf die Welt kam, heiraten sie im Frühjahr 1939 und im gleichen Sommer zog Elisabeth mit ihrem Sohn in das Haus von Hans Mutter in Berlin. Dies hatte den Vorteil, dass sie sich jetzt häufiger sehen konnten, da Hans beruflich regelmäßig in die deutsche Hauptstadt fliegen musste. Er genoss die wenige Zeit mit seiner Familie und auch seine Mutter freute sich über neues Leben in ihrem Heim. Zwei Jahre später bekamen sie eine Tochter, die sie Franziska tauften. Abgesehen von den kriegsbedingten Beeinträchtigungen gingen die folgenden Jahre ihren gewohnten Lauf. Nach dem schweren Luftangriff auf Berlin im November 1943 entschieden sie, dass Elisabeth mit den Kindern zurück nach Dresden ziehen solle, da dort die Gefährdung durch die Bomber deutlich geringer war. Hans Mutter weigerte sich mitzugehen, sie wollte ihr Haus in Berlin nicht aufgeben.
Der Umzug nach Dresden erfolgte im Dezember 1943, da Hans Eltern noch ihre frühere Wohnung besaßen. Nachdem sie eine Zeit lang vermietet war, stand sie jetzt leer, sodass sie nach einer ausgiebigen Reinigung kurzfristig umziehen konnten.
Allerlei Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf und er wusste nicht, was mit ihm geschah. Wie es jetzt weitergehen sollte. Er saß als Gefangener in dieser Zelle. Zusammen mit einer Mutter und ihren beiden Kindern, deren Mann von der SS ermordet wurde. Er sah die Frau an, dann die beiden Kinder und ein starkes Gefühl der Verbundenheit und der Mitverantwortung für ihre Situation kam in ihm auf. Sein persönliches Schuldgefühl wuchs, und als die Frau ihn plötzlich mit tränennassen Augen ansah, hörte er sich sagen: »Ich werde Ihnen helfen. Das verspreche ich Ihnen!«
Im Atlantik, vor Lorient, Freitag, 2. Juni 1944, 23:00 Uhr
U-2500 war befehlsgemäß um 22:00 Uhr aus dem Bunker ausgelaufen. Der schlanke Bootskörper wurde an der Hafenmauer festgemacht, die Mannschaft befand sich in erhöhter Alarmbereitschaft. Neben dem Kapitän, dem leitenden Ingenieur (LI) und den Wachen im Turm waren nur noch die Männer draußen, die den Hänger am Boot festmachten. Mit geübten Handgriffen hatten sie ihn in kürzester Zeit befestigt und dem Kapitän Vollzug gemeldet. Am Kai standen nur einige Marineoffiziere, als das Boot die Leinen einholte und die starken Elektromotoren das Gespann langsam auf Fahrt brachten. Das Hafengebiet war weiträumig abgesperrt und nahezu die gesamte Beleuchtung ausgeschaltet worden. Nur wenige Markierungslichter gaben dem Kapitän auf der Brücke die Chance, den sicheren Weg aus dem Hafen zu erkennen. Fast geräuschlos glitt der geschmeidige Bootskörper durch das ruhige, tiefschwarze Hafenwasser, und wenn der Mond eine der kleinen Wolkenlücken fand, konnte man die weiße Bugwelle vor dem Boot ausmachen.
Ohne bemerkt zu werden, hatte U-2500 den Hafen von Lorient verlassen, und steuerte jetzt mit einer Geschwindigkeit von dreizehn Seemeilen durch den schwarzen Atlantik einem noch unbekannten Ziel entgegen.
»Mann auf Brücke?«, war die Stimme des Kapitäns zu hören und nach einer Bestätigung schwang sich der Kapitänleutnant nach oben. Ein kurzer Blick in den wolkenverhangenen Himmel, dann nahm er sein Glas und betrachtete den erleuchteten Horizont hinter ihnen. Starke Flakscheinwerfer streckten ihre langen, weißen Tentakeln in den dunklen Nachthimmel auf der Suche nach Opfern. Das dumpfe Grollen schwerer Flugzeugmotoren war zu hören, in das sich die Explosionen der Bomben und der Flakgeschosse mischten.
»Schwerer Luftangriff auf Lorient, Herr Kaleu«, sagte der LI, ohne sein Glas von den Augen zu nehmen. »Da haben wir Glück gehabt, dass wir schon weg sind.«
»Wie spät ist es?«
»Genau dreiundzwanzig Uhr, Herr Kaleu.«
Der Kapitän sah eine Zeit lang schweigend durch sein Glas, dann fragte er unvermittelt: »Glauben Sie an einen Zufall, dass die Briten genau zu der Uhrzeit angreifen, zu der wir ursprünglich auslaufen sollten?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er das Glas ab und schaute wieder nach oben.
»Wir gehen runter. Klar zum Tauchen!«
London, Montag, 5. Juni 1944, 21:30 Uhr
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