Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Sage zu erzählen bedrückte ihn. Er war zu tief darin verwickelt.
»Bei der Verzauberung ist etwas schiefgelaufen, denn die Scherben zeigen nicht nur Drogan´t´Hars Aufenthaltsort, sondern verstärken neben ihren eigenen auch seine magischen Fähigkeiten. Besonders, wenn sie in ihrer ursprünglichen Lage aneinandergefügt werden. Wenn er den Spiegel komplett zusammenbauen könnte, wäre das das Ende nicht nur von Siebenreich. Wo immer ein Bruchstück das Tageslicht erblickt, kann er dorthin sehen und es orten. Also leben in Siebenreich, bei den Elben und bei den Zwergen eine Handvoll unerkannter Helden. Sie versuchen, ihre Stücke heimlich zum Silbersee zu bringen, in dessen Fluten zu werfen und dem Zugriff des Drachensohnes ein für alle Mal zu entziehen. Mich hat das Schicksal zu einem der Ihren gemacht. Meine Scherben sind so ziemlich die letzten, die nicht zerstört oder von Drogan´t´Har erbeutet worden sind. Nicht ganz ungefährlich, wie du an dem Überfall im Gasthof gesehen hast. Die Häscher hatten die Brandmale am Unterarm.«
»Ja, die Drachenköpfe«, Julia nickte. »Und wo liegt dieser Silbersee?« Sie saß über den Tisch ganz nah zu Mike herübergebeugt und hing mit schief gelegtem Kopf förmlich an seinen Lippen.
»Mitten im Orkland hinter den Morgenbergen. Kaum hinzukommen. Und mit Sicherheit bewacht. Ach so …« Er stockte, musste sich scheinbar überwinden, um weiterzusprechen. Sich daran zu erinnern, war ihm wohl unangenehm. »Übrigens nur einige Tagesreisen südlich des Ortes, an dem der Sage nach das magische Tor vermutet wird.«
14.
Versunken in Gedanken an all das, was sie heute erlebt, gesehen und gehört hatte, trottete Julia hinter Mike her. Der hatte seinen Schlitten zerlegt, Fell und Riemen auf seinen Tornister gebunden und sich den auf den Rücken geworfen. Das Birkenholz hatte er beim Schmied an dessen Brennholzstapel gelehnt.
Julias neue Schuhe waren bequem. Etwas zu groß, aber weich, mit einer anschmiegsamen Sohle, durch die sie Unebenheiten oder Steine und Stöcke gerade eben erahnen konnte, ohne, dass sie schmerzten. Es waren lederne Schnürschuhe ohne Absatz und mit einem knöchelhohen Schaft.
Der Schuster war von ihren Sandalen begeistert gewesen. Eine so feine Arbeit hätte er noch nie gesehen. Julia hatte sie ihm gern überlassen, waren sie doch nutzlos geworden. Der Schuster wollte die Sandalen untersuchen und nachmachen. In der nahen Hauptstadt würde man sie ihm aus den Händen reißen, endlich wäre seine Arbeit nicht mehr eintönig und trüge auch noch Früchte. Die Landbevölkerung wolle nur derbes Schuhwerk und zahle wenig.
Die Erinnerung an diese kurze Begebenheit begleitete Julia länger, als das ganze Geschäft gedauert hatte. Über ihre neuen Schuhe freute sie sich.
Sie nahm kaum wahr, dass sie in der Dämmerung Königstein erreichten. Die Stadtwache hatte sie eingehend befragt nach ihrer Herkunft, dem Zweck ihres Kommens und der Dauer ihres Aufenthaltes. Mike hatte geantwortet, auch in ihrem Namen. Sie hatte sich stumm gegeben, ab und zu die Schultern gezuckt oder als Antwort genickt oder den Kopf geschüttelt. Ihre Gedanken versuchten zu intensiv, das in Siebenreich Erlebte und Mikes Erzählungen mit ihrem bisherigen Weltbild in Übereinklang zu bringen. So konnte sie sich neuen Eindrücken oder dem Woher und Wohin in den Fragen des Torwächters nicht hinreichend widmen.
Ein Gedanke hatte sie dennoch zum Schmunzeln gebracht. Als sie die Silhouette von Königstein aus der Entfernung studieren konnte, schien sich das ihr bekannte Freising mit dem Domhügel vor ihr aufzubauen. Bis ihr einfiel, dass sie seit ihrer Ankunft in diesem seltsamen Land nicht eine einzige Kirche entdeckt hatte.
Unterwegs hatte Mike es ihr erklärt.
»Die Leute sind zu sehr in ihrem Aberglauben verhaftet, als dass sie eine Religion mit einem Gott oder mit Göttern begründen könnten. Es gibt wohl übers Land verstreut einige Schreine, Säulen oder Altäre, an denen wenige Leute den alten, meist vergessenen lokalen Gottheiten ihrer Altvorderen huldigen. Zwerge und auch Orks, letztere mit ihren Schamanen, sind wesentlich beflissener, eine Religion auszuüben. Meist ist es eine Naturreligion. Die ist häufig auf Häuptlinge zurückzuführen, die sich als Religionsgründer hervorgetan haben, um ihr Volk leichter in Zaum zu halten.«
Später machte sie den vermeintlichen Domhügel mit dem Bischofssitz als die königliche Burg aus.
Königstein war mit seinen mehreren tausend Einwohnern eine großartige Stadt, die größte im Land. Doch Julia nahm nichts von der relativen Großzügigkeit und Schönheit auf. Sie hielt den Blick auf den Boden gesenkt und folgte Mike in ein Gasthaus nahe dem Stadttor. Nur zwei Gassen dahinter, etwas den Hügel hinauf Richtung Burg. Ihr Abendessen genoss sie nicht. Es verkam zur mechanisch ausgeführten Nahrungsaufnahme, obwohl es herzhaft war und nicht schlecht schmeckte. Wie in Trance ging sie später vor Mike her, als er sie die Treppe hoch in den Schlafsaal über der Gaststube schob. In einer Ecke des Raumes fanden sie einen Schlafplatz groß genug für sie beide. Er breitete seine Decken aus, sie kroch unter die eine kleine, ohne sich entkleidet zu haben. Was er machte, beachtete sie gar nicht.
Noch lange grübelte sie.
Was hat er mir heute wieder alles erzählt? Magische Spiegel. Zwerge und Elben. Drogan´t´Har, Sohn des Drachen. Helden unterschiedlicher Rassen, getrennt in ihrer Geschichte, aber gemeinsam in ihren Zielen. Mike einer von ihnen. Einbildung! Märchen!
Mal war sie sich sicher. Dann wieder nicht.
15.
Auch Mike fand lange keinen Schlaf. Er lag auf dem Rücken, hatte die Hände unter seinem Kopf gefaltet und starrte die Decke an.
Nun habe ich Julia mein Geheimnis offenbart, ihr von meiner Mission erzählt. Das erste Mal überhaupt habe ich es jemandem gegenüber erwähnt, und das ausgerechnet einer Frau, die ich kaum kenne! Geht es mir schon so wie dem Waldläufer, der mir die erste Scherbe zusteckte? Der wohl so unter seelischen Druck stand, dass er sich unbedingt mitteilen musste. Habe ich wenigstens meine Anspannung vermindert, fühle ich mich erleichtert? Wenn ich ehrlich bin, nein.
Da waren sie wieder, die alten Zweifel!
Was passiert, wenn ich einfach alles hinschmeiße, die Scherben irgendwo vergrabe und versuche heimzukommen? Es ist doch nicht mein Krieg! Ich will nach Süden, ja. Aber was genau will ich da? Will ich wirklich durch Seeland um die Morgenberge herum zum Silbersee? Oder ist mir der egal, und ich suche im Grunde doch das magische Tor?
In beiden Fällen will ich mich im Süden längere Zeit an einem Ort aufhalten, um die nötigen Informationen zu sammeln. Im Norden ist die Bevölkerung so auf den Krieg fixiert, dass ich nichts, aber auch gar nichts erfahren kann. Anders als in Friedenszeiten, in denen man solche Geschichten liebt, haben die Leute heutzutage für Sagen über ein magisches Tor oder einen silbernen See einfach nichts übrig.
Er hörte ein Rascheln neben sich und drehte den Kopf. Julia hatte sich mit einer Bewegung wieder in sein Gedächtnis gebracht.
Und sie? Was mache ich mit ihr, was ist für sie das Beste?
Magische Tore machten ihm Angst, denn er war sich nicht sicher, wo sie hinführten. Besonders, wenn sie im Land der Monster standen. Anders als sein Tor, das ihn hierher zwar in ein mittelalterliches Ambiente entführt hatte, aber eben doch in eine Kultur, die es in der Geschichte seines Landes auch gegeben hatte. Wenn man von der Magie und von den Nachbarvölkern einmal absah.
Dann bleibt sie eben hier. Das ist das Sicherste. Und du weißt ja selbst nicht einmal, ob du dich durch das Tor traust. Wenn du es überhaupt findest.
Sein Entschluss war gefasst, er würde Julia in Königstein lassen und allein weiterziehen.
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