Der Schmied wollte sich nicht aufdrängen, Julia hingegen platzte vor Neugier. Beide waren begierig zuzuschauen, und es wäre Mike schwer gefallen, sie davon abzuhalten. Also fügte er sich und ließ sie zusehen, gab aber keinerlei Erklärung. Er zog eine Axt von ihrem Nagel an einem Holzbalken und prüfte ihre Schärfe. Anschließend trug er das Blech zu einem Hackklotz, hielt die Schneide der Axt auf seine Markierungen und trieb sie daran entlang durch Hammerschläge auf den Axtkopf durch das dünne Eisen. Ein Blech von etwas mehr als der doppelten Fläche des Spiegels blieb übrig. Zur Probe legte er ihn nochmals auf, kippte ihn auf die andere Seite und nickte zufrieden. Das Blech hielt er nun mit einer Hälfte über die harte Kante des Tisches und bog es mit Hammerschlägen so weit um, dass die beiden Hälften fast deckungsgleich aufeinanderlagen, bei der oberen stand ein schmaler Rand über.
Er schob Julia und den Schmied so eng zusammen, dass das Tageslicht nahezu ausgesperrt war. Im Halbdunkel rollte er die Spiegelscherbe aus der Stoffhülle und schob sie bis zum Anschlag zwischen die beiden Hälften des gefalteten Bleches. Die spiegelnde Seite zeigte nach unten zum Tisch hin. Ein rötlicher Schimmer glomm auf und wollte sich entfalten. Mike gab ihm keine Gelegenheit. Sofort begann er, mit dem Hammer an der Tischkante den Rand des oberen Bleches rundum so weit umzubiegen, dass kein Licht mehr auf den Spiegel fallen konnte, egal, wie man ihn hielt. Letztendlich hämmerte er auf dem Amboss die umgelegten Blechränder fast bündig in die Fläche. Das Werkstück war handtellergroß, fast rund und flach.
Mike atmete tief durch. Er war mit seiner Arbeit fertig und begutachtete sein Werk. Ein flaches Stück Eisen, so schien es bei oberflächlicher Betrachtung. Der Rand war beinahe umlaufend umgebördelt, die letzte Seite war einfach umgeklappt. Was sich darin verbarg, war nicht zu erkennen. Er nickte zufrieden und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann wickelte er sein Meisterwerk in den Lappen und versenkte das Päckchen in seinem Tornister.
Sogar der Schmied machte ihm ein Kompliment.
»Mmh, das habt ihr gut hinbekommen, so, als hättet ihr das nicht zum ersten Mal gemacht.«
»Ach, Meister Schmied, wenn ihr wüsstet! Auch Waffen habe ich …« Unvermittelt brach Mike ab, als habe er schon zu viel gesagt. »Sagt mir nun, was ihr für das Blech und eure Arbeit verlangt!«
Nachdem er vom Schmied sein Eisen bezahlt bekommen und ihm seinerseits den Preis entrichtet hatte, verließen Mike und Julia den freundlichen Riesen mit einem herzlichen Gruß und kehrten auf einem Umweg zum Schuster in den Truthahn zurück.
13.
»So, ich habe alles mit angesehen. Was ist das mit dem Spiegel? Erzähl schon«, forderte Julia und strahlte Mike über den Rand ihres Bechers an.
Langsam gewöhnte sie sich an die seltsamen Abenteuer in dieser Welt, besonders, wenn der Apfelwein gute Laune machte. Auf einmal waren ihr Herkunft und Schicksal des Spiegels wichtiger als die Galgenvögel, von denen sie ihn erbeutet hatten.
»Eine alte Überlieferung, eine Sage. Aber nochmal …« Vom ersten Wort an wusste er, dass er nicht aufhören durfte zu erzählen, bevor sie die Geschichte zu Ende gehört hatte. »Du solltest besser nichts darüber wissen. Dann kannst du nichts verraten, gerätst deswegen nicht in Gefahr und kannst mich nicht behindern. Der Spiegel ist der Grund, warum ich nach Süden will. Und noch weiter.«
»Doch, erzähl! Ich will´s wissen.«
»Na gut.«
Julia stemmte die Ellbogen auf den Tisch und stützte das Kinn auf die gefalteten Finger.
»Na endlich! Ich hatte schon Angst, du erzählst mir nie etwas darüber.«
»Du weißt, dass Krieg herrscht, angezettelt durch den so genannten Dunklen Herrscher . Eigentlich heißt er Drogan´t´Har, Sohn des Drachen . Er soll von einer menschlichen Mutter geboren sein, aber von einem Drachen gezeugt. Falls das mit dem Drachen stimmt, dächte ich eher an eine menschliche Amme oder Ziehmutter. Jedenfalls hat er einen menschenähnlichen Körper mit Echsenkopf, er ist hünenhaft und richtig böse. Sagt man. Der Sage nach hat er sich vor Hunderten von Jahren an die Spitze der Reiche hinter den Morgenbergen gesetzt und die Ork- und Goblinstämme untereinander geeint. Ihre alten Zwistigkeiten hat er beendet, indem er ihnen die Reichtümer der Zwerge und die aus Siebenreich versprochen hat. Außerdem dürfen sich die Orks an den Elben im Westen austoben, wenn sie hier mit den Menschen fertig wären. Elben konnten sie noch nie leiden.«
Er nahm einen Schluck.
»Vor mehreren hundert Jahren hat er das Land schon einmal mit Krieg überzogen. In der Überlieferung wird das der Große Krieg oder der Krieg der sechs Geschlechter genannt. Menschen, Zwerge und Elben auf der einen, Drachen, Orks und Goblins auf der anderen Seite. Als Drogan´t´Har besiegt und geflohen war, wollte man wissen, wo er sich aufhielt. So glaubte man, gewappnet zu sein, falls er sich wieder erheben würde. Also wurde eine Art magisches Fernglas geschaffen, mit dem man seinen Aufenthalt bestimmen konnte. Auch in unseren Märchen und Sagen gibt es Kristallkugeln und Spiegel, in denen man in die Vergangenheit, in die Zukunft oder einfach an andere Orte sehen kann. Der Spiegel hier ist aber real. Gegossen haben ihn die Zwerge in den Hochöfen ihrer Erzminen zusammen mit den Menschen und den Elben. Die Menschen haben eine Schuppe von Drogan´t´Har beigetragen, die sie ihm abgeschlagen hatten. Sie liegt im Mittelstück und stellt die magische Verbindung zu ihm her. Die Elben haben die Außenteile mit Magie belegt, jedes Stück mit einer anderen, sie ergänzen sich und steigern ihre Macht gegenseitig.«
Er sah sie an, vermochte aber nicht zu deuten, ob sie die Stirn vor Skepsis oder vor Verwirrung gerunzelt hatte. Also bot er ihr einen Vergleich.
»Du bist gut im Bogenschießen und bist damit für deine Gegner gefährlich. Noch gefährlicher wirst du, wenn du reiten lernst. Du bist schneller und kannst aus der Bewegung schießen. Und es wäre für sie das Ende, wenn du in die Zukunft sehen könntest und wüsstest, wo du ihnen aufzulauern hättest. Genauso unterstützt eine Scherbe die andere mit ihrer jeweiligen Fähigkeit.«
Julia schüttelte den Kopf.
»Kein Märchen?«
»Glaub´ ich mittlerweile nicht mehr. Aber der Reihe nach! Auf jeden Fall wurde der Spiegel regelmäßig alle paar Jahrzehnte zwischen Zwergen, Menschen und Elben reihum weitergegeben. So war jede Art eine Zeitlang Bewahrer des Friedens. Es war ein fruchtbares Zeitalter. Irgendwann zerbrach ein Naturereignis den Spiegel entlang der Ränder in seine ursprünglichen Einzelteile. Drogan´t´Har hat ein paar Scherben erbeutet und versucht, sie zu nutzen, weshalb man sich heute bemüht, die restlichen seinem Zugriff zu entziehen. Sie sind unzerstörbar, es sei denn, man wirft sie in den Silbersee. Dort sollen sie sich auflösen. Übrigens: Drachen hat man seit dem Großen Krieg nie wieder gesehen.«
Er machte eine Pause. Unvermittelt offenbarte er ihr dann sein Schicksal und seine Mission.
»Das Mittelstück hat uns heute der Zufall in die Hände gespielt, die Drachenschuppe hab ich aber nicht erkennen können. Das Glas ist angelaufen und trübe geworden. Die Scherben wurden vom Schicksal über den ganzen Kontinent verstreut. Zwei hatte ich schon. Eine hat mir jemand heimlich zugesteckt, der einen Tag darauf erdolcht wurde. Die andere habe ich einem Schamanen abgenommen.«
»Einem Schamanen?«
»Einem Priester, einem Zauberer, einem Medizinmann der Orks.«
Julia nickte, so gut es mit dem aufgestützten Kinn eben ging.
»Beide Male wurde mir das Leben ziemlich schwer gemacht. Drogan´t´Har lässt die Scherben suchen und ihre Besitzer umbringen. Die von heute muss schon auf dem Weg zu ihm gewesen sein, denn der Räuber trug sein Zeichen.«
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