Mutters Gedächtnis für ihre Helden ist unerschöpflich. Heute verwechselt sie schon mal ihre Enkel und Urenkel, aber ganz gewiss nicht irgendwelche unbedeutenden Nebenfiguren aus Lohengrin oder Parzival.
Je nach Entwicklungsstufe legte ich die Quintessenz der Sagen anders aus. Mal war ich über Medea entsetzt, die ihre Kinder ermordete, um sich an ihrem Mann zu rächen, mal zeigte ich Verständnis. Bei Lohengrin stürzte ich mich in Trauer, weil er seine Liebe verließ und es stresste mich, dass er die Ursache dafür nie verriet. Das geht mir heute noch so.
Nicht mit Hänsel und Gretel wuchs ich auf, aber sie stammen aus der gleichen Quelle. Nur älter, und ohne Happy End.
Vater war heimlicher Mystiker. Die Heimlichkeit war zwingend, denn er war Theologe. Von ihm wurde damals noch das Gegenteil erwartet.
Stolz an seinem Schreibtisch sitzend, wobei mein Kopf gerade die Tischkantenhöhe erreichte, und die Beine in der Luft baumelten, wurde ich in seine Welt eingeführt. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, schritt er auf und ab und rezitierte den Zauberlehrling oder Goethes Faust.
Über eine stille Natur zu verfügen bietet durchaus Vorteile. Mir wird oft Unterhaltung von Leuten geboten, die glücklich sind, weil ich ihnen zuhöre.
Nicht nur Eltern prägen ihre Kinder. Auch Erzieher üben einen bleibenden Einfluss aus.
Mein Lehrer sorgte für einen permanenten Angstpegel und lehrte uns, über den eigenen Schatten zu erschrecken.
Titus, er hieß tatsächlich wie ein römischer Imperator, hatte einige Zeit im Befriedungseinsatz in Korea verbracht. Andere Schüler ackerten Fauna und Flora der heimatlichen Scholle durch, wir wurden detailliert in die Folgen eingewiesen, sollten wir in Indonesien in eine Schlangengrube geworfen werden. Ihm verdanke ich, dass ich beim Anblick einer Blindschleiche zu atmen vergesse und mich Fotos von Schlangen erstarren lassen.
Er klärte uns so detailliert über die Foltermethoden der Asiaten auf, dass bei der bloßen Erwähnung des Kontinents vor meinem inneren Auge ein an einen Baum gefesselter Soldat erscheint, der von roten Ameisen aufgefressen wird.
In die Pause führte er uns im Gleichschritt: „In Zweierkolonnen antreten. Marsch! Links recht, links rechts.“ Geriet ein Kamerad aus dem Tritt, bekamen wir kollektives Pausenverbot. Was meistens eintrat.
Die Turnstunde fand auf dem benachbarten Kasernenareal statt. Hier jagte uns der Lehrer über einen Hindernissparcour, der für Rekruten gedacht war. Nur, dass wir gerade mal zehn Jahre alt waren. Mit Hilfe von Höhenkurven lernten wir Kartenlesen und trainierten an Steilwänden, uns abzuseilen. Er vermittelte uns eine militärische Ausbildung. Was sonst noch auf dem Schulplan stand, prügelte er uns ein.
Zuhause erzählte ich wenig, denn mich quälte das Wissen, eine miese Schülerin zu sein, da ich im Militärparcours versagte.
Ich war zehn Jahre alt, als ich lernte, alleine mit dem Schmerz umzugehen. Vater erkrankte an einer Depression und Mutter reagierte darauf auf ihre eigene Art: Sie flüchtete sich ihrerseits in Krankheiten.
Wie die meisten Kinder spazierte ich von der Schule nach Hause, als hätte ich alle Zeit der Welt. Begeistert rannte ich los, als ich einen Krankenwagen vor unserem Haus sah. Was für ein Glück, hautnah eine Katastrophe mitzuerleben!
Doch es war meine Mutter, die sie einluden.
Niemand erklärte mir, was geschehen war und keiner fragte, ob ich Trost brauchte.
Die Schuld suchte ich bei mir und nahm an, meine Mutter habe mich sattgehabt. Alleine und verängstigt vergrub ich mich im kindgerechten Zimmer mit der Märchentapete, der rosa Rüschendecke und den dazu passenden Vorhängen, und drückte Parzival, meinen malträtierten Teddy, an mich. Ich weinte aus tiefster Seele. Es schüttelte mich, und ich schrie meine Verlassenheit hinaus, doch niemand erschien.
Wissen, keine Hilfe zu erhalten, verkroch ich mich noch tiefer in mich und hörte damit auf, Hilfe zu erwarten.
Die Zeit des Narren war vorüber und die nächste Karte übernahm.
„Die Hohepriesterin“. Sie lehrte mich, auf die Intuition zu achten.
Nach Vaters Genesung zogen wir in eine andere Stadt, weg von Titus. Kein Lehrer nach ihm vermochte noch Respekt in mir zu erzeugen, was sich negativ im Zeugnis niederschlug.
Bildung war für mich bloß eine lästige Begleiterscheinung der Kindheit, für die ich keine Zeit opfern wollte.
George Bernard Shaw schrieb: „Wer das Paradies auf Erden sucht, sollte nach Dubrovnik reisen.“
Die Stadtmauer wurde im 13. Jahrhundert vollendet. Sie erreicht eine Länge von 1940 Metern, eine Höhe von 25 Metern und ist bis zu sechs Metern breit. Darüber wälze ich mich in einer Masse von Touristen. Manchmal erhasche ich einen spektakulären Blick über Dalmatien, doch meistens kämpfe ich um einen sicheren Platz für meine Füße auf Schwellen, die während Jahrhunderten durch zahllose Fußtritte abgeschliffen und poliert wurden.
„Nicht alles war schlecht im Sozialismus“, erklärte mir Aram einst. Sicher hatte er damit gemeint, dass es damals noch Platz auf der Mauer gab, um sich hinzusetzen.
Ich sehe ein kleines Tor. Eine steile Treppe führt auf eine Plattform, und ich bin alleine. Fast, denn ein Einheimischer sitzt an einem Tisch und bietet mir Tee an.
Schlaf brachte mir die erste Nacht wenig. Einsam fühlte ich mich. Sie hatte sich anders entwickelt als in meiner überbordenden Fantasie.
An diesem Ort bin ich ihm nahe. Hier kämpfte er vor mehr als 40 Jahren gegen imaginäre Gegner und trainierte für seine neue Schule, die sich nicht wie erhofft als Schwertkampfausbildungsstätte erwies, sondern als Drillanstalt für Knaben.
Das wilde Kind mit Kriegergenen bis unter die Schädeldecke wurde gezähmt. Teilweise.
Heute sind seine Gene schwächer geworden, doch noch immer bestimmen sie sein Denken. Krieger akzeptieren nur Sieg oder Niederlage, schwarz oder weiß, ja oder nein. Zuerst der Kampf, dann das eigene Leben. Sie sind nicht die einfachsten Partner, dafür der Liebe treu bis in den Tod.
Der Magier, Karte I der Heldenreise
Wie oben, so unten.
Alle Völker besitzen in der Mythologie zwei Elternpaare. Die Himmlischen sowie die Irdischen. Sie verkörpern die Polarität. Urprinzipien wie männlich – weiblich; hell – dunkel; Gut – Böse; Yin - Yan.
Der Magier gilt als unser göttlicher Vater. Er besitzt die magischen Werkzeuge des Tarots, welche die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde symbolisieren, unsere Bausteine der materiellen Welt, und verkörpert den aktiven Teil in uns. Die Karte erscheint, um dem Leben eine Richtung zu geben, Ziele zu setzen, Einsichten und Ideen zu erlangen.
Unseren Weg starten wir mit den Werkzeugen, die uns der Magier zugeteilt hat. Auf ihrer Heldenreise fallen die einen durch die Maschen des Glücks, andere werden von Personen geleitet, die sie weiterentwickeln oder in ein psychisches Gefängnis sperren, aus dem sie nicht mehr herausfinden. Oft erreichen nur diejenigen ihr Ziel, die über Kraft und Willen verfügen.
***
Aram
Aram erhielt alle Werkzeuge des Magiers. Die Entbehrungen lehrten ihn Bescheidenheit, die Armut verlieh ihm einen eisernen Willen.
Mit zwölf Jahren verließ Aram seine bisherige Welt, um eine fremde zu betreten. Schweren Herzens ließ er eine weinende Mutter, wehklagende Tanten und erleichterte Onkel zurück, die ihn mit vielen Anweisungen in einen Zug steckten.
„Vergiss nicht, wo immer du auch hingehst, du bleibst für alle Zeiten mein Sohn. Versprich mir, dass du zurückkommst, sobald du deine Schule beendet hast“, schluchzte seine Mutter.
Alle drückten sie ihren Liebling, diesen Teufel, den sie insgeheim bewunderten, fest an die Brust.
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