Ursula Burkowski
Weinen in der Dunkelheit
Das Schicksal eines Heimkindes
in der DDR
Jaron Verlag
Neuausgabe
1. Auflage dieser Ausgabe 2011
© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin
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Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin,
unter Verwendung eines Fotos von Ursula Burkowski
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN 9783955521943
Die Originalausgabe dieses Buches erschien 1992
Grußwort Grußwort von Hildigund Neubert Ursula Burkowski ist eines von bisher ungezählten Heimkindern der DDR. Das System der Kinderheime war das Versuchslabor für Margot Honeckers Ziel, die vollwertige sozialistische Persönlichkeit zu schaffen. Das Kinderheim Königsheide war die Vorzeigeeinrichtung. In allen DDR-Kinderheimen galten die Prinzipien der Kollektiv-Erziehung. Vergehen der Einzelnen wurden an der Gruppe geahndet, die den Druck ungebremst und unter den Augen der Erzieher an die Einzelnen weitergab. Zuwendung, Entfaltung von Kreativität und individuelle Förderung hatten in diesem Konzept kaum Raum. Einzelne Erzieher, die dies versuchten, waren bald versetzt oder gefeuert. Die »Königsheide« war nicht das schlimmste Heim. Alle Heimkinder wussten, es kann schlimmer kommen: Spezialkinderheime, Jugendwerkhof, Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Aber an der kalten Realität dieses Vorzeigeheimes der sozialistischen Volksbildung wird deutlich, in welchem Maß die Kinder zum Objekt eines Umerziehungsexperimentes wurden. Eigensinn und Individualität wurden gebrochen, sie störten den Erziehungsprozess. Es ging um die Produktion funktionierender Arbeitskräfte für den Produktionsprozess. Die sozialistische Heimerziehung hinterließ tiefe Spuren, die entlassenen Jugendlichen hatten Schwierigkeiten, Beziehungen aufzubauen und sich im Alltag zurechtzufinden. Ganz zwangsläufig landet auch das neugeborene Kind der Protagonistin im Heim. Ursula Burkowski öffnet uns ihr Herz, weil sie für die Kinder, die heute in Heimen leben, etwas verändern, Verständnis wecken will. Wir aber können aus diesem Buch auch sehen, wie die kommunistische Diktatur Menschen deformiert hat, im Kinderheim, aber auch in der Erziehungsdiktatur, die die DDR insgesamt war. Wir haben die Aufgabe, Wege der Heilung dieser Schäden zu suchen und denen, deren Seelen so früh beschädigt wurden, heute ein Leben in Würde zu ermöglichen – endlich. Hildigund Neubert, Landesbeauftragte des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
Vorwort zur Neuausgabe 2011 Vorwort zur Neuausgabe 2011 Nachdem »Weinen in der Dunkelheit« 1992 erstmals erschienen war, erreichten mich zahlreiche Briefe aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, aus Italien und der Türkei. So wurde das Buch auch ins Italienische übersetzt, und Güzin Özkan schrieb zu ihrer Diplomarbeit: »Ich wünsche mir, dass dieses Werk in türkischer Sprache erscheint und besonders von Eltern, die ihre Kinder verlassen haben, gelesen wird.« Das Thema Heimkinder beschäftigt viele Menschen. Mein Buch veranlasste Betroffene und Interessierte, mir zu schreiben. Leider ist es mir nicht möglich, allen zu antworten. Doch ich möchte mich auf diesem Wege bei allen bedanken, die sich bei mir gemeldet haben – besonders bei den Kindern und Jugendlichen, die den Mut hatten, über ihre Probleme zu reden, oder die sich ganz einfach dem Thema Heimkind gestellt haben. Es gab aber auch immer wieder Anfeindungen von Seiten ehemaliger Pädagogen, die an ihren Erziehungsmethoden bis heute nichts Verwerfliches finden. Jedoch überwog die Zustimmung von Lehrern und Erziehern, die im Nachhinein ihre Arbeitsweise mit Kindern in Frage stellten. Dennoch blieb bis heute vieles im Dunkeln. Ein böses Wort, eine schlechte Handlung gegenüber einem Kind können prägend sein und das ganze spätere Erwachsenenleben beeinflussen. Ich wünsche mir, dass alle Pädagogen und die, die sich dazu ausbilden lassen, begreifen, dass ihnen anvertraute Kinder in liebevoller Sorge und Respekt besser gedeihen als mit Willkür und Missbrauch. Ursula Burkowski, Berlin 2010
Vorwort zur Erstausgabe Vorwort zur Erstausgabe In diesem Buch schreibe ich über meine schwierige Kindheit und Jugend. Als ich mit zehn Jahren lernte, meine Umwelt zu begreifen, nahm ich mir vor, alles einmal aufzuschreiben. Mein erstes Tagebuch hatte ich mit 1 4 Jahren. Es ist von einem Freund, der eifersüchtig war, zerrissen worden. 1989 flüchteten viele Eltern ohne ihre Kinder durch die plötzlich offene Grenze in den Westen. Die Heime füllten sich mit verlassenen Kindern. Nun stand mein Entschluss fest: Ich muss allen Menschen zeigen, wie Kindern und Jugendlichen, die ohne Elternhaus aufwachsen, zumute ist. Denn wer weiß das schon? Wer macht sich schon Gedanken darüber, warum Kinder, wenn man sie befragt, über sich selbst schweigen? Mancher jugendliche Leser wird sich in meinem Buch wiederfinden, trotzdem ist es eher ein Buch für Erwachsene. Aufmerksam gelesen, trägt es dazu bei, Verständnis für diese Kinder und Jugendlichen zu wecken, die es mit ihrer Umwelt und sich selbst schon schwer genug haben. Ursula Burkowski, Berlin 1991
So könnte es gewesen sein So könnte es gewesen sein Ost-Berlin 1953. Eilig läuft die Frau durch den kalten Dezemberregen. Sie weiß, das ist ihre letzte Chance: Wenn sie die nicht nutzt, muss sie wieder ins Gefängnis. Endlich, der Bahnhof! Die S-Bahn steht schon da. Hoffentlich kommt keine Polizeikontrolle, denkt sie und geht schneller. Gerade noch rechtzeitig erreicht sie den Wagen, denn da fährt der Zug auch schon los, Richtung West-Berlin. Erleichtert lässt sie sich in einer Ecke auf die harte Holzbank fallen. Sie schaut in die dunkle Nacht und spürt Schadenfreude in sich aufsteigen. Das Leben noch einmal neu beginnen, ohne die Vergangenheit, das ist ihr Ziel. Zufrieden betrachtet sie ihr Spiegelbild im Fenster, sie ist noch immer eine schöne Frau. Als der Zug hält, hört sie: »Lehrter Bahnhof«, erste Station in West-Berlin.
Weihnachten Weihnachten Langsam geht der alte Mann durch die gottverlassene Gegend von Kaulsdorf. Ob seine Tochter es am Heiligabend den Kindern gemütlich gemacht hat? Er ist sich nicht sicher. Zu oft hat er die Kinder allein vorgefunden. Die Angst um seine Enkel treibt ihn hastiger vorwärts. Erschöpft von der Anstrengung des langen Fußmarsches, erreicht er das einsame Haus am Bahngelände. Fast gespenstisch hebt es sich in der trüben Dämmerung gegen den Himmel ab. In den Fenstern brennt kein Licht, die Angst schnürt ihm fast das Herz ab. Also doch! Leise ruft er nach den Kindern. Erleichtert sieht er das schwarze Loch eines geöffneten Oberfensters. Er ruft noch einmal, diesmal lauter, dann hört er die Stimme seines ältesten Enkels. »Opa, hilf uns! Wir sind allein und haben Hunger. An den Wasserhahn komme ich heran, zu trinken haben wir!« Der Mann versucht, seine Enkel zu beruhigen, und ruft: »Ich hole Hilfe, bin gleich zurück!« Mit Gewalt brechen die Polizisten die verschlossene Tür auf. Ein fürchterlicher Gestank von Kot und Urin schlägt ihnen entgegen. Der Lichtschalter funktioniert nicht. Beim Einschalten der Taschenlampe bietet sich ihnen ein grauenvolles Bild. Nackt, verdreckt und völlig unterernährt sitzen die Kinder auf den schmutzigen Holzdielen. Ein etwa zweijähriges Mädchen schaut mit großen, traurigen Augen still auf die Fremden und versucht, mit der einzigen Decke im Zimmer seinen mageren Körper zu wärmen. Im Zimmer herrscht eisige Kälte, der Kachelofen ist offenbar seit Tagen nicht geheizt worden. In einer Ecke steht ein rostiges Metallgitterbett, in dem ein vier Monate altes Mädchen liegt, mit den Haaren an den Gitterstäben festgefroren. Der vierjährige Bruder hat versucht, den schreienden Säugling mit Wasser aus der Suppenkelle zu füttern, er fand keine Flasche. Fast eine Woche sind sie allein gewesen und haben trotz Hunger und Kälte überlebt. Nach einem langen Krankenhausaufenthalt trennt man die Geschwister und bringt sie in verschiedenen Heimen unter.
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