Die langen Flure zu bohnern machte keinen Spaß, ging aber am schnellsten.
Hatten wir unsere Dienste erledigt, rannten wir zur Schule. Am Eingang standen die Pioniere oder FDJler vom Dienst und kontrollierten die Mappen. Spielzeug und nicht zur Schule gehörende Bücher wurden uns weggenommen, wir erhielten sie zur Zeugnisausgabe zurück, das konnte ein halbes Jahr dauern. Schlimmer war es, wenn sich »Schundliteratur« aus dem Westen in der Mappe befand. Die Lehrer notierten sich dann den Namen, und nach der Schule fand mit dem Erzieher ein Verhör über die Herkunft statt. Hatte sie der Schüler von einem anderen Schüler, wurde dieser dazugeholt. Dieses Spiel dauerte so lange, bis die Pädagogen endgültig wussten, wie die Hefte ins Heim gelangt waren. Sie konnten nur von Kindern mitgebracht worden sein, die am Wochenende zu ihren Eltern fuhren. Kam dann heraus, wer die Hefte mitgebracht hatte, durfte der »Schuldige« bis zur nächsten Elternversammlung am Wochenende nicht nach Hause. Die Strafe war für die Kinder besonders hart.
Hielt ein Schüler dicht, schlossen ihn die Erzieher von besonderen Anlässen aus. Noch härter war die Kollektivstrafe, dann galt das Verbot, zum Beispiel »Kino«, für die gesamte Gruppe, bis der Schüler seine »Schuld« gestand. Nicht selten rasteten einige Mädchen darüber dermaßen aus, dass sie auf die Betreffende so lange einschlugen und sie anspuckten, bis sie alles gestand. Einmal kam ich dazu. Fünf Mädchen hielten Conny mit Gewalt fest, sie lag auf dem Boden und konnte sich nicht wehren. Zwei weitere Mädchen rissen ihr den Mund auf und spuckten mehrmals hinein.
»Ihr Schweine!«, schrie ich.
Augenblicklich ließen sie Conny los und drohten mir: »Halt’s Maul, sonst bist du dran!«
Ich rannte davon und heulte. Allein kam man gegen so viele nicht an.
Nach der Schule aßen wir zu Mittag, hielten Mittagsruhe und erledigten unter Aufsicht der Erzieher unsere Schulaufgaben. Danach war Freizeit. Entweder gingen wir zur Arbeitsgemeinschaft, oder wir spielten draußen. Vor dem Abendbrot erledigten wir schnell noch einmal die Ämter, und danach war Nachtruhe.
Die Schule stank jeden Tag nach alten Schmalzstullen. Schmalzstullen gab es täglich, und niemand mochte sie mehr. Sie lagen in den Toiletten, auf dem Schulhof, in den Gängen und im Klassenzimmer. Waren sie vertrocknet, bogen sie sich nach oben, und man rutschte darauf herum. Zwar bemühten sich die Lehrer um Sauberkeit, Ordnung und Disziplin, aber der Gestank und die Stullen blieben. Deswegen stank mich die Schule im wahrsten Sinne des Wortes mächtig an. Umso mehr freuten sich alle Kinder, als verkündet wurde, dass die Schule für einige Tage wegen Kohlenmangels geschlossen würde. Warme Gruppenräume brauchten wir dringender.
Ein sehr strenger Winter brachte uns unverhofft noch einmal ein paar Tage schulfrei. Fröhlich rannte ich in meine Gruppe. An meiner Schlafzimmertür blieb ich wie angewurzelt stehen. Mein Schrank war ausgeräumt. Die Sachen lagen verstreut auf dem Fußboden, und die Mädchen standen lauernd daneben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mir die Angst, die in mir hochkroch, nicht anmerken zu lassen. Ruhig bückte ich mich nach meinen Klamotten, da stürzten sie auf mich zu.
Die Schläge taten sehr weh. Ein Mädchen hatte sein Handtuch so lange gedreht, bis es hart wie ein Seil war, damit schlug es auf mich ein. Ich wehrte mich, ohne zu heulen, den Triumph gönnte ich ihnen nicht. Nach einer Ewigkeit hörten sie mit den Schlägen auf, aber dafür brüllten sie mich jetzt an: »Los, sag, wo die Dinger sind, du Drecksau!« – »Du Schwein, du hast Schmöker versteckt!«
Nun erfuhr ich, worum es eigentlich ging. In der Mappe meines Bruders hatten die Lehrer bei der Morgenkontrolle verbotene Westschmöker gefunden. Sofort durchsuchten sie seinen Schrank, fanden aber nichts. Daraus folgerten die Erzieher, dass sie dann wohl bei mir versteckte Hefte finden würden.
Natürlich verfolgten die Mädchen die Aktion in meinem Schrank, und als sie dazu aufgefordert wurden, sofort Meldung zu machen, wenn diese Dinger bei mir auftauchten, wollten die Lieblinge der Erzieher nicht mit der Erfolgsmeldung warten. Deshalb bekam ich Prügel.
Man verdächtigte mich zu Unrecht, ich besaß nicht ein einziges Heft. Seitdem traute ich keiner aus meinem Zimmer mehr.
Gern ging ich in unseren Tierpark. Hier traf man eigenartigerweise kaum Kinder. Wir hatten viele Tiere vom richtigen Berliner Tierpark. Prof. Dr. Dathe schenkte sie dem Heim: zwei Füchse, Hängebauchschweine, Schafe, Rehe und Hühner.
Eines Tages ging ich mit Petra, einem Mädchen aus meiner Gruppe, in den Tierpark. Wir wollten uns das neue Zwergpony ansehen. Der Tierwärter beschäftigte sich gerade mit dem Ausmisten der Schweineställe, eine günstige Gelegenheit für uns zum Reiten. Wir hatten noch nie auf einem Pferd gesessen, und das Pferd hatte sicherlich noch nie einen Reiter auf seinem Rücken getragen. Als Petra oben saß und ich dahinter, stellte es sich auf die Hinterbeine, und ich sauste über den Pferdehintern nach unten in den Schweinetrog. Anstatt mir beim Herausklettern behilflich zu sein, lachte Petra sich halb tot.
Während ich versuchte, den Dreck unter einem Wasserhahn abzuspülen, sann ich für Petras schadenfrohes Lachen auf Rache. Da entdeckte ich die Laubgrube, in der die Wärter das Herbstlaub verbrannten. Im Sport war ich sehr gut, und ich dachte mir, wenn wir über diese Grube springen, wird sie es nicht schaffen und hineinfallen.
»Komm, wir machen Wettspringen«, sagte ich.
Aber sie zweifelte daran, dass sie die Grube überspringen konnte.
»Ist doch ganz einfach«, sagte ich, nahm Anlauf und sprang hinüber. Da lief Petra los, sprang und landete genau in der Mitte des Erdloches. Jetzt musste ich lachen, ich tanzte um die Grube herum und sang »Häschen in der Grube«.
Petra hüpfte wie Rumpelstilzchen herum und schrie fürchterlich. Erst dachte ich, vor Wut, aber dann sah ich, dass unter dem frischen Laub glühende Asche lag. Sie schrie vor Schmerzen, ich musste mich auf den Bauch legen, um ihre Hand zu erreichen, und zog sie heraus. Ihr rechter Fuß qualmte und hinterließ eine richtige Rauchwolke. Sie tat mir leid, das hatte ich nicht gewollt.
»Stell deinen Fuß in den Trog, dann kühlt er schneller ab«, riet ich ihr.
Aber als sie ihn aus dem Schweinefraß zog, sah er noch schlimmer aus. Stinkend, mit Brandlöchern am Fuß, Strumpf und Schuh in der Hand, humpelte sie mit mir zur Krankenstation. Dort lag sie zwei Wochen. Jeden Abend ging ich sie besuchen. Um mit ihr reden zu können, musste ich zum Fenster hochklettern und mich am Gitter festhalten. Sie erfuhr von mir immer das Neueste vom Heim. Nach einiger Zeit, als ihr das Bein nicht mehr so weh tat, freute sie sich über die schulfreie Zeit und war nicht mehr böse auf mich.
Einmal holten mich meine Pflegeeltern erst am Sonnabend ab. Darüber war ich nicht traurig. Im Gegenteil, denn am Freitag hatte ich schon die Verpflegungstüte erhalten. Sie hatte jedes Mal den gleichen Inhalt: eine lange harte Wurst, 250 Gramm Butter und ein ganzes Brot. Diese Tüte erhielten neuerdings alle Kinder, die an den Wochenenden zu Pflegeeltern fuhren.
Bald darauf hatten fast alle Kinder Pflegeeltern. Ich glaubte nicht an die plötzlich aufkommende Kinderliebe, sondern daran, dass es an den Tüten lag, dass sich so viele Eltern fanden.
Mit meinen drei besten Freundinnen versteckte ich mich im Gebüsch, und wir rissen gierig die Tüte auf. Es machte wahnsinnigen Spaß, einfach in das Brot zu beißen. Endlich konnten wir uns mal richtig satt essen.
Wir bettelten oft vor Hunger bei den Küchenfrauen um Essen. Zwei von ihnen, Tante Meta und Tante »Lapaloma« (sie sang immer das Lied »La Paloma, ohé«), steckten uns manchmal etwas Essbares zu. Sie waren lustige dicke Frauen, die im Notfall aber auch ernst und streng sein konnten. Das restliche Küchenpersonal wechselte genauso häufig wie die Erzieher. Tante Meta und Tante Lapaloma gehörten zu uns, deswegen mochten wir sie sehr.
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