Ursula Isbel
Reiterhof Dreililien 4 – Der Sommer im Tal
Saga
Reiterhof Dreililien 4 – Der Sommer im Tal Copyright © 1995, 2019 Ursula Isbel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726219616
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Verschwenderisch war der Frühling in unser Tal eingezogen. Schlüsselblumen, Buschwindröschen und Veilchen blühten und verblühten auf den Wiesen. Im Wald gab es Maiglöckchen an heimlichen Stellen, die nur Jörn und Matty kannten, und am Bachufer leuchtete das Gelb wilder Schwertlilien. Aus dem Garten des Kavaliershäusls schickte der Flieder Duftwolken zu meinem Fenster hinauf, und im Wald schrie unermüdlich der Kukkuck.
„Herrje, ist das schön, man hält es fast im Kopf nicht aus“, sagte Jörn eine Woche vor Pfingsten zu mir, als wir gerade ein Stück morschen Koppelzaun ausbesserten, dem der Winter und die regnerischen Apriltage endgültig den Rest gegeben hatten. Er ließ den Hammer sinken und sah zum Waldrand hinüber, wo Trollblumen im hohen Gras blühten und das junge Laub der Buchen in der Sonne leuchtete.
„Ja“, sagte ich träumerisch. „So ungefähr stelle ich mir das Paradies vor – oder die Elysischen Felder, der Ausdruck paßt besser.“
Jörn lachte. „Bloß ohne kaputte Koppelzäune. Und ohne Geldsorgen. Ohne Büffelei fürs Abitur . . . Ach, es müßte vieles anders sein, Nell.“ Jetzt war sein Gesicht wieder ernst – sein schmales Gesicht, das ich so liebte, mit den tiefliegenden blauen Augen unter dem blonden Haar, das vom indianischen Stirnband zurückgehalten wurde.
Schweigend arbeiteten wir weiter. Ich hielt die neuen Pfosten, er trieb sie mit kräftigen Hammerschlägen in die Erde. Dann nagelten wir die Querlatten daran fest.
Ich wußte, wie vieles ihn zur Zeit beschäftigte, daß diese Monate entscheidend für sein weiteres Leben sein konnten. Gerade jetzt stand er mitten im Abitur; er hatte den Wehrdienst verweigert und sollte im Spätsommer als Zivildienstleistender in einem Rosenheimer Krankenhaus zu arbeiten anfangen.
Leise sagte ich: „Wir werden nicht mehr so viel zusammen sein, wenn du deinen Zivildienst machst.“
Wieder ließ Jörn den Hammer sinken. „Ja“, erwiderte er ebenso leise. „Aber das wird doch nichts zwischen uns ändern?“
Ich schüttelte den Kopf. „Für mich bestimmt nicht.“
Eine Drossel sang nicht weit von uns in einem Holunderstrauch. Wir sahen uns an. Plötzlich dachte ich, daß ich eine Menge darum gegeben hätte, wenn unser Leben weiter so verlaufen wäre wie bisher, geteilt zwischen den Pferden und der Schule. Ohne Jörn würde auch Dreililien für mich nicht mehr so sein wie zuvor – nicht mehr jener Ort, der alles in sich vereinte, was ich zum Glücklichsein brauchte.
„Ohne dich wird alles anders sein“, sagte ich schwer.
Jetzt lächelte er. „Du tust ja, als würde ich nach Australien auswandern. Ich werde doch abends nach Hause kommen, und wenn ich Wochenenddienst oder Nachtdienst machen muß, kriege ich dafür freie Tage. Und mittags, wenn du mit der Schule fertig bist und ich Pause habe, können, wir uns treffen. Aber erst muß ich mal das Abitur schaffen.“
Er schnitt ein grimmiges Gesicht und schlug so heftig auf einen Pfosten ein, daß auf der angrenzenden Koppel die Pferde verwundert die Köpfe hoben und zu uns herübersahen.
„Und die Pferde“, sagte ich. „Die Reitschule! Was sollen wir ohne dich machen?“
Jörn nahm eine Holzlatte vom Leiterwagen und erwiderte: „Wir werden schon eine Lösung finden. Die Reitschule müßte jetzt so viel abwerfen, daß wir einen Ganztags-Pferdepfleger einstellen können. Vielleicht jemanden wie Mikesch, der bereit ist, für wenig Geld zu arbeiten, weil ihm der Job Spaß macht.“
„Einen wie Mikesch finden wir nicht noch einmal“, sagte ich voller Überzeugung. „Er ist ein einmaliger Glücksfall.“
Jörn grinste. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er auf meine Bewunderung für unseren Reitlehrer sauer reagiert; doch das war vorbei. Er wußte jetzt, daß ich für Mikesch nichts als Freundschaft empfand.
„Ja“, sagte er. „Mikesch ist einmalig. Wir müssen schon froh und dankbar sein, wenn wir jemanden finden, der Pferde mag und sie gut versorgt und der mit einem kleinen Gehalt zufrieden ist.“
„Einer, der gern auf dem Land lebt, statt dauernd das Gefühl zu haben, an einem gottverlassenen Ort begraben zu sein“, fügte ich hinzu.
Jörn sah mich von der Seite an. „So wie du, als du herkamst?“
„Ja, aber da kannte ich euch noch nicht! Außerdem bin ich in der Stadt aufgewachsen. Ein Mensch, der immer nur in der Großstadt gelebt hat und im Vorfrühling aufs Land kommt, wenn alles noch kahl ist und wenn’s wie aus Eimern gießt, wird wohl nicht gleich in Frohlocken ausbrechen und rundherum alles für total paradiesisch halten!“
Er griff in die Brusttasche seiner Latzhose und holte eine Portion Nägel heraus. „Du brauchst dich nicht zu verteidigen. Das war kein Vorwurf.“
„Ich weiß“, sagte ich. „Aber ich verstehe mich heute selbst nicht mehr so recht.“
Es lag nun schon über ein Jahr zurück. Im Vorfrühling war es gewesen, als ich zum erstenmal nach Dreililien kam, widerstrebend und voller Vorurteile gegen das Landleben, vor allem aber gegen Kirsty, die Freundin meines Vaters. Sie hatte das kleine Haus im Tal von Dreililien von ihrer Tante Karen geerbt, das „Kavaliershäusl“, wie es hier jeder nannte. Vor langer Zeit hatte es zu dem mächtigen Vierseithof Dreililien gehört, auf dem Jörn und Matty Moberg mit ihren Eltern lebten.
Damals hatte ich mir nicht träumen lassen, daß dieses abgeschiedene Tal im Chiemgau einmal meine Heimat werden sollte, daß hier ein ganz neues Leben mit neuen Freunden auf mich wartete, mit Vater und Kirsty und meiner Schwester Kathrinchen, die erst vor vier Monaten zur Welt gekommen war. Ein Leben mit Matty und Mikesch, mit den Pferden – vor allem aber mit Jörn.
„Seltsam . . . zu denken, daß das alles nicht passiert wäre, wenn Vater Kirsty nicht kennengelernt hätte“, murmelte ich.
„Du könntest vielleicht genauso gut überlegen, was alles nicht passiert wäre, wenn du nicht geboren worden wärst“, meinte Jörn. Er richtete sich auf und beschattete die Augen mit der Hand. „Da drüben kommt Matty angeritten. Er war wohl mal wieder beim Postkasten in Mariabrunn, um die Nachmittagsleerung nicht zu verpassen.“
Ich spähte über die blühenden Wiesen. Zwischen den Alleebäumen sah ich eine Schimmelstute mit einem blonden Reiter auftauchen und gleich darauf hinter dem verwilderten Gutspark von Dreililien verschwinden.
„Er schreibt ihr noch immer jeden Tag“, sagte ich. „Ob Maja wohl in den Pfingstferien kommt?“
Jörn musterte mich erstaunt. „Das weiß ich doch nicht. Hat er es dir denn nicht gesagt? Er vertraut dir doch sonst immer alles an.“
„Nicht, wenn’s um Maja geht“, sagte ich, während wir uns daranmachten, die letzten Querlatten anzunageln. „Da ist er verschlossen wie eine Auster. Aber ich denke schon, daß sie’s irgendwie schafft, ihren Willen durchzusetzen und zu kommen, sogar wenn ihre Eltern dagegen sind. Wenn Maja sich etwas vorgenommen hat, führt sie’s auch durch.“
Maja – „das Mädchen mit den Pfefferkuchenaugen“, wie wir sie alle nannten – war während der Weihnachtsferien im vergangenen Winter zum erstenmal zum Reiten nach Dreililien gekommen. Damals hatte sie mit ihrer Familie in einem kleinen Ort in der Nähe von Frankfurt gewohnt. Inzwischen war sie nach Aschaffenburg umgezogen. Sie und Matty hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt und schrieben sich regelmäßig. In den Osterferien, als auf Dreililien die zweiten Reiterferien abgehalten wurden, war Maja wiedergekommen; und nun hoffte Matty auf Pfingsten . . .
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