Ich mußte lachen. „Wenn sie zu stinken anfangen, merken wir’s schon“, sagte ich.
Hopfi rümpfte die Nase. „Hunde gehören nicht ins Haus“, predigte sie. Aber keiner achtete darauf, weil sie das immer mindestens fünfmal sagte, wenn sie bei uns war. Plötzlich hörte Kathrinchen zu trinken auf, verzog das Gesicht und begann zu heulen. Ihre rechte Backe war feuerrot. Sie schrie so jämmerlich, daß es einen richtig fertigmachen konnte.
„Das arme Geisterl“, sagte Frau Hopfwieser, als Kathrinchen eine kurze Pause einlegte. Sie nannte Kinder oft „die kleinen Geisterl“. Herr Alois kratzte an der Küchentür. Wahrscheinlich wollte er in den Garten, um seine Ohren zu schonen.
Ich ließ ihn hinaus, setzte mich für eine Weile auf die Treppe vor der Haustür, Kathrinchens Jammergeschrei in den Ohren, und ließ mir die Sonne aufs Gesicht scheinen. Die Klematissterne blühten unglaublich blau an der Hauswand wie auf dem Bild eines alten Poesiealbums, und der Wind rauschte und flüsterte in der Eiche. Von Ferne schrie der Kuckuck; die Lerchen schwirrten wieder über den Koppeln wie im vergangenen Jahr. Der Sommer stand vor der Tür, mit seinem ganzen Reichtum, seiner Fülle.
Ich dehnte mich und hatte mit einemmal das Gefühl, daß dieser Sommer wie ein unermeßliches Geschenk, wie eine Kiste voller Schätze vor mir lag; mit Jörn und Matty und Mikesch, den Pferden, mit dem Heu auf den Wiesen, dem warmen Wasser des Waldteichs, den Lesestunden in der Hängematte.
Ich schleuderte meine Sandalen von den Füßen und ging barfuß durch das Gras des Gartens, das noch naß vom Morgentau war. Die erste Grille zirpte eindringlich zwischen den Apfelbäumen, und die Knospen des Kletterrosenstrauches, der sich bis zu meinem Fenster emporrankte, wurden schon dicker.
Herr Alois, der gerade im Obstgarten herumstöberte, hob den Kopf und bellte. Dann raste er mit fliegenden Ohren zur Gartenpforte. Ich drehte mich um. Diana, die gefleckte Jagdhündin von Dreililien, streckte den Kopf über den Zaun.
Wo Diana war, konnte Jörn nicht weit sein. Sie folgte ihm meist wie ein Schatten. Ich lief durchs Gras und auf den Kiesweg und merkte kaum, daß sich die kleinen Steine in meine Fußsohlen bohrten. Herr Alois zwängte sich durch die Pforte; er zeigte sich von seiner nettesten Seite. Er scharwenzelte um Diana herum, warf auffordernd den Kopf zurück und scharrte mit den Hinterpfoten, daß Gras und Steine flogen, doch sie kümmerte sich gar nicht um ihn. Sie sprang zur Begrüßung an mir hoch, und da tauchte auch Jörn zwischen den Haselnußsträuchern auf.
Ich ging ihm entgegen. „Servus, Nell“, sagte er, und als wir uns umarmten, merkte ich, wie unruhig und angespannt er war. „Heute geht’s zu Hause mal wieder rund. Meine Eltern sind in Frasdorf, und die Theres muß auf eine Beerdigung. Ich hab versprochen, schnell ins Dorf zu fahren und einzukaufen. Matty hilft Mikesch bei den Reitstunden. Kommst du mit?“
Ich hatte fast vergessen gehabt, daß heute Samstag war; an den Wochenenden gab es auf Dreililien wegen der Reitschüler immer doppelte Arbeit. Jörn hatte heute lernen wollen, das wußte ich, aber irgendwie kam fast immer etwas dazwischen, was ihn davon abhielt.
„Kann ich nicht mit dem Fahrrad fahren und für euch einkaufen?“ fragte ich hastig.
Er legte den Arm um meine Schultern. „Das ist lieb von dir“, erwiderte er, „aber du hast ja keine Ahnung, welche Riesenmengen wir brauchen. Du würdest das Zeug gar nicht aufs Fahrrad bringen. Außerdem muß ich noch schnell beim Lagerhaus vorbeischauen und fragen, ob das Kraftfutter schon geliefert worden ist. Am besten nehmen wir den Traktor und den Anhänger, dann können wir die Säcke gleich mitnehmen, falls sie da sind.“
Ich sagte: „Du, wir teilen uns die Arbeit, dann geht’s rascher. Ich kaufe ein, während du zum Lagerhaus fährst. Dann holst du mich beim Laden ab. In Ordnung?“
„Damit könnten wir eine halbe Stunde sparen, ja.“ Jörn sah sich seufzend um. „Die Erlenwiese müßte dringend gemäht werden. Hoffentlich kommt der Sepp heute noch. Im Moment hat er allerdings wohl mit seiner eigenen Heuarbeit genug zu tun.“
Sepp half auf Dreililien stundenweise als Stallknecht aus. Er hatte in der Nähe seinen eigenen kleinen Bauernhof, der jedoch nicht genug einbrachte, daß er und seine Familie davon leben konnten.
Überall nichts als Arbeit – man weiß gar nicht, wo man anfangen soll!“ sagte Jörn düster. Zuwenig Geld und zuviel Arbeit – das war das ewige Problem auf Dreililien, auch jetzt, wo das Gestüt zur Reitschule erweitert worden war. Da die Pferdezucht nicht mehr genug abwarf, hatte Herr Moberg vor fast einem Jahr beschlossen, die Pferde zu verkaufen; und um das zu verhindern, war die Idee mit der Reitschule entstanden . Nun kam regelmäßig jeden Samstag und Sonntag ein ganzer Schwung junger Leute zum Reitunterricht nach Dreililien. Diese regelmäßigen Einnahmen von den Wochenend-Reitstunden und den Reiterferien brachten gerade so viel ein, daß man auf Dreililien jetzt einigermaßen um die Runden kam. Reichtümer ließen sich dabei allerdings nicht verdienen. Es reichte nach wie vor nur für ein winziges Gehalt für Mikesch, und die längst fälligen Reparaturen an den Gebäuden mußten immer wieder verschoben werden.
Doch unser wichtigstes Ziel hatten wir erreicht: Die Pferde mußten nicht verkauft werden. Es war schlimm genug, daß Friedrich Horkheimer, der Pferdehändler, von Zeit zu Zeit auf dem Hof erschien und eines von den Fohlen mitnahm . . .
Ich murmelte: „Ich hole nur schnell meine Schuhe und sag Kirsty Bescheid. Vielleicht braucht sie auch etwas aus dem Dorf.“
Jörn nickte. „Ist gut. Ich fahre inzwischen den Traktor aus der Scheune. Wir treffen uns dann am Kreuzweg.“
Auf dem Weg nach Mariabrunn begegneten uns erst die Freundinnen Lisa und Martina auf ihren Fahrrädern. Sie kamen aus Frasdorf und schwitzten heftig, denn die Strecke nach Mariabrunn war eine einzige Berg-und-Talfahrt. Sie winkten und riefen uns etwas zu, was wir nicht verstanden. Am Dorfrand kam dann Roddy mit wildem Geknatter auf seinem Moped angefahren. Er hieß eigentlich Christian, doch wir nannten ihn wegen seiner Ähnlichkeit mit Rod Stewart nur noch Roddy.
Als er uns sah, hielt er an, hob die Klappe seines Sturzhelms und schrie: „Ich kann heute länger bleiben. Wenn’s euch recht ist, helfe ich nach der Reitstunde bei der Heuarbeit.“
Jörn stellte den Motor ab und sah zweifelnd auf ihn nieder. „Recht wär’s uns schon, aber kannst du denn überhaupt mähen?“
„Klar. Ich war früher in den Ferien immer bei einem Onkel auf dem Land und hab ihm bei der Arbeit geholfen. Vielleicht kommt Carmen auch und macht mit.“
Er fuhr wieder los und preschte so um die Kurve, daß eine Schar Hühner mit lautem Gegacker flüchtete. „Dann wäre wenigstens das Problem mit der Erlenwiese gelöst“, sagte Jörn erleichtert. „Manchmal denke ich, mir wächst alles total über den Kopf; aber dann geht’s meistens doch irgendwie.“
Ich sah ihn von der Seite an. Sein schmales, fast hageres Gesicht war ernst; ein Muskel an seinem Kinn zuckte. Ich dachte, daß er für sein Alter eigentlich schon viel zuviel um die Ohren hatte. Sein Vater war seit einigen Jahren durch einen Autounfall schwer gehbehindert, und seitdem trug Jörn eine Menge Verantwortung für den Hof–mehr, als gut für ihn war, fand ich. Durch Mikesch war das besser geworden; doch auch jetzt, wo Jörn sich eigentlich nur um sein Abitur hätte kümmern sollen, hatte er noch zu viele Pflichten.
Er setzte mich mit einer langen Einkaufsliste vor dem Supermarkt ab, der eigentlich überhaupt nicht in unser verschlafenes kleines Dorf paßte, und fuhr zum Lagerhaus weiter. Zum Glück waren noch keine Feriengäste unterwegs, so daß ich an der Kasse nicht warten mußte. Als ich wieder aus dem Laden trat, hatte Jörn den Traktor schon vor dem Gasthaus geparkt; er kam mir entgegen und schleppte einen Riesenkarton voller Lebensmittel über die Straße.
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