„Alles in Ordnung“, sagte er. „Das Kraftfutter war da. Jetzt nichts wie nach Hause. Kann ich heute zu euch in den Garten kommen und dort lernen? Wenn ich daheim bleibe, will doch bloß ständig einer etwas von mir. Da ist’s besser, ich seile mich ab.“
„Klar“, erwiderte ich froh. „Du kannst mittags bei uns essen, und nachmittags mache ich dir dann Kaffee, wenn ich mit Hazel ausgeritten bin. Sie braucht dringend Bewegung.“
„Allerdings. Sie wird in letzter Zeit ein bißchen zu fett“, gab er zurück. „Übergewicht ist schlecht, das schadet auch ihren schwachen Gelenken. Du mußt mit dem Füttern aufpassen, Nell. Ich glaube, du gibst ihr vor lauter Liebe zu viel zu fressen.“
Ich sah ihn schuldbewußt an. „Vielleicht hast du recht. Aber . . . ich kann ihr nicht widerstehen, wenn sie mich so mild und geduldig ansieht, weißt du.“
Jörn grinste. „Die Wahrheit ist, daß du das bißchen Taschengeld, das dir im Monat noch bleibt, für Äpfel, Bananen und Karotten ausgibst, weil Hazel sie so gern frißt. Man kann’s auch übertreiben.“
„Ja, schon. Ich denke bloß immer, sie könnte vielleicht wieder krank werden, wenn sie nicht genug Vitamine bekommt.“
Hazel war mein Pferd, das liebste, gutmütigste Tier, das man sich vorstellen kann. Ich hatte sie Herrn Moberg im vergangenen Spätsommer um einen Spottpreis abgekauft, weil sie an einer schweren Hufkrankheit litt und getötet werden sollte. Jetzt konnte sie nur noch sehr vorsichtig geritten werden – doch ums Reiten ging es mir eigentlich gar nicht. Mir war es vor allem wichtig, daß Hazel auf Dreililien bleiben durfte, zusammen mit den anderen Pferden, und daß sie es gut hatte. Das hatte sie verdient.
Jörn sagte: „Bis auf die Hufrehe ist Hazel pumperlgesund. Es sei denn, du mästest sie weiter, bis sie platzt.“
„Hab schon verstanden“, sagte ich. „Du brauchst mir keine Moralpredigt zu halten. Ich werde in Zukunft besser aufpassen.“
Als wir Dreililien erreichten, waren Mikesch und Matty mit den Reitschülern ausgeritten. Sepp war nicht gekommen; vermutlich mähte er gerade eine seiner eigenen Wiesen. Doch ich war sicher, daß Carmen bald auftauchen würde, so wie jeden Samstag, wenn Roddy hier war.
Carmen kam auch wirklich kurze Zeit später angeradelt, einen gewaltigen Sonnenbrand auf der Nase und den Oberarmen. „Jedesmal, wenn’s ans Heuen geht, krieg ich einen halben Sonnenstich!“ stöhnte sie und lehnte ihr Fahrrad gegen die Stallmauer. „Wenn ich bloß so eine Haut hätte wie du, Nell! Du wirst erst rot wie eine Indianersquaw und dann richtig braun, aber ich mit meinen Sommersprossen und meiner Schweinchenhaut . . . Ich glaube, meine Eltern haben auch nicht mit einem rotblonden Blasengel gerechnet, als sie mich ausgerechnet Carmen taufen ließen!“
Jörn grinste. „Sie hätten sich’s eigentlich denken können, wo sie doch beide noch blonder und blauäugiger und pausbäckiger sind als du“, sagte er. „Hör mal, Roddy wollte übrigens heute nach der Reitstunde länger hierbleiben und unsere Erlenwiese mähen. Er meint, er könnte das mit dir zusammen machen, aber wenn du sowieso schon einen Sonnenbrand hast . . .“
„Ist egal“, erwiderte Carmen rasch. „Dann zieh ich halt ein T-Shirt mit langen Ärmeln an. Leihst du mir eins, Nell?“
Ich nickte. „Klar. Du brauchst bloß …“
Jörn faßte mich am Arm. „Seht mal“, sagte er. „Da kommt Mikesch zurück – allein und ohne Pferd.“
Wir spähten zum Waldrand, wo Mikeschs hohe Gestalt zwischen den Buchen aufgetaucht war. Die Sonne blendete uns so, daß wir zuerst nur seinen Umriß sahen. Dann sagte Carmen halblaut: „Er ist nicht allein. Ich glaube, er trägt jemanden!“
Wir wechselten einen erschrockenen Blick. Ohne ein Wort zu erwidern, raste Jörn los, den Pfad zwischen den Koppeln entlang.
„Verdammt!“ sagte ich. Dann rannten wir ihm nach.
Es war Sabine Mayreder, die blasse, unscheinbare Dreizehnjährige, die meist unbeachtet im Hintergrund stand. Sie mußte vom Pferd gestürzt sein, denn Mikesch trug sie auf den Armen. Einen Augenblick lang durchfuhr mich ein wahnsinniger Schreck. Ich dachte, Sabine wäre tot – doch als ich näher kam, sah ich, daß ihre Augen offenstanden. Ihr linkes Bein baumelte irgendwie verdreht herab. Sie war leichenblaß.
Schon war Jörn bei ihnen und fragte Mikesch, ob er ihm Sabine abnehmen sollte. Mikesch schüttelte den Kopf und ging weiter. Wer weiß, wie weit er sie schon getragen hatte. Ein Glück, daß er so groß und stark war.
Als wir dazukamen, begann Sabine zu weinen. Ich dachte zuerst, sie hätte Schmerzen, doch dann hörte ich sie schluchzend sagen: „Meine Mutter wird mich nie wieder reiten lassen!“
Ich biß mir auf die Unterlippe. In meine Erleichterung, daß der Reitunfall offenbar einigermaßen glimpflich abgegangen war, mischte sich Mitleid. Sabine mit der ängstlichen, gluckenähnlichen Mutter – bestimmt würde Frau Mayreder ihre Tochter nach diesem Unfall nie wieder auf ein Pferd steigen lassen! Und obwohl ich nur selten ein Wort mit Sabine gewechselt hatte, ahnte ich doch, wie wichtig das Reiten für sie war – vielleicht gerade deshalb, weil sie sich die Reitstunden so mühsam hatte erkämpfen müssen.
„Was ist passiert?“ fragte ich keuchend.
„Eileen hat vor einem Fasan gescheut, der aus dem Dickicht aufgeflattert ist“, sagte Mikesch. „Da ist Sabine gestürzt und mit dem linken Bein gegen eine Baumwurzel geprallt.“
Er machte ein grimmiges Gesicht, wie meistens, wenn ihm etwas leid tat. Außerdem fühlte er sich wohl verantwortlich für den Unfall, obwohl es doch wirklich nicht seine Schuld war. Daß das ausgerechnet Sabine passieren mußte! Bei jedem anderen Reitschüler wäre es nicht so schlimm gewesen . . .
„Scheiße“, sagte Jörn.
Als wir den Hof erreichten, lief Jörn ins Wohnhaus, um den Arzt anzurufen. Mikesch trug Sabine über den Innenhof und hinauf in die ehemalige Fuhrknechtskammer, wo er wohnte.
Carmen und ich folgten ihm schweigend. Er legte Sabine vorsichtig auf die große Matratze, die ihm als Bett diente. Sabine schien Schmerzen zu haben, sie biß die Zähne aufeinander. Doch sie jammerte nicht.
„Könnten wir nicht sagen, daß es ein Unfall mit dem Fahrrad war?“ schlug Carmen nach einigen Minuten ratlosen Schweigens vor. „Ich meine, wenn du sonst nicht mehr reiten darfst . . .“
Mikesch erwiderte: „Nein, das geht nicht. So eine Lüge bringt nichts. Außerdem würde es sowieso keiner glauben. Was meinst du, Sabine?“
„Nein“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, „Es hat keinen Sinn, zu lügen.“
Mikesch nickte. „Ich werde mit deiner Mutter reden.
Vielleicht gelingt es mir, ihr klarzumachen, daß kein Mensch leben kann, ohne gewisse Wagnisse einzugehen – und daß sie dich nicht vor Schaden bewahren kann, wenn sie dich ständig in Watte packt und in einen Glaskasten steckt.“
Sabine sah zu ihm auf. „Sie wird’s nicht verstehen“, sagte sie.
Ich glaubte es auch nicht. Vom Hof her klang Hufgetrappel zu uns herauf. Matty war mit den Reitschülern vom Ausritt zurückgekommen. Doch das gewohnte Stimmengewirr blieb aus. Ein Pferd wieherte erregt, und Matty rief etwas. Obwohl wir die Reitschüler nicht sehen konnten, hing die Bedrückung, der Schrecken über den Unfall, doch fast greifbar in der Luft.
Mikesch kniete vor der Matratze und machte sich sehr behutsam daran, Sabine den linken Reitstiefel auszuziehen. Sie biß die Zähne zusammen, stieß dann aber doch einen Schmerzensschrei aus.
„Es geht nicht“, sagte er schließlich. „Das Bein ist schon zu sehr geschwollen. Wir müssen den Stiefel aufschneiden.“
Auf der Treppe erklang Gepolter. Matty tauchte im Türrahmen auf und streckte den Kopf ins Zimmer. Er war bleich um die Nase. „Wie geht’s? Habt ihr den Arzt schon verständigt?“
Читать дальше