„Jörn ist gerade dabei“, erwiderte Mikesch. „Ich krieg den Stiefel nicht herunter.“
„Ich hole ein scharfes Messer.“ Doch Matty war so erhitzt und atemlos, daß ich rasch sagte: „Laß nur, das mach ich schon.“
Ich war froh, aus der Fuhrknechtskammer herauszukommen. Es tat mir richtig weh, Sabines gequältes und hoffnungsloses Gesicht zu sehen. Carmen folgte mir leise.
„Bringt Franzbranntwein aus der Hausapotheke mit!“ rief Mikesch uns nach.
Auf dem Hofplatz standen die Reitschüler mit verwirrten Mienen. Roddy hielt Eileen am Zügel, die mit weit aufgerissenen Augen und geblähten Nüstern herumtänzelte.
„Was ist los? Wie geht’s ihr? Hat sie sich den Fuß gebrochen?“ riefen uns Martina und Lisa zu, als wir vorüberkamen.
„Ich glaube, es ist nicht so arg“, murmelte Carmen. „Der Arzt muß jeden Moment kommen.“
Jörn kam uns an der Vortreppe entgegen. „Dr. Erler hat gesagt, ich soll die Ambulanz anrufen“, erklärte er, „damit Sabine sofort ins Kreiskrankenhaus zum Röntgen gebracht werden kann. Sie müßten in spätestens einer halben Stunde hier auftauchen.“ Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar. „Am besten, wir sagen meinem Vater vorerst nichts von der Sache. Er sieht immer gleich alles so schwarz und denkt, die totale Katastrophe wäre über uns hereingebrochen. Glücklicherweise ist Mutter heute mit ihm zur Unterwassermassage gefahren, da kriegen sie von allem nichts mit.“
Ich nickte wortlos. Jörn tat mir fast ebenso leid wie Sabine, wie er dastand, das Gesicht blaß unter der ersten Sonnenbräune. Zu allem anderen, was ihn zur Zeit belastete, jetzt auch noch das! Außerdem war ich nicht sicher, ob nicht vielleicht wirklich eine Katastrophe im Anrollen war. Man konnte nie wissen, wie Frau Mayreder reagieren würde. Es war ihr durchaus zuzutrauen, daß sie sich einbildete, wir – beziehungsweise Mikesch oder unsere Pferde – wären schuld an dem Unfall, und die Leitung der Reitschule wäre verantwortungslos und unzuverlässig, und daß sie das überall herumposaunte und die Eltern unserer Reitschüler verrückt machte.
„Wenn sie Sabine abgeholt haben, kommst du aber wirklich zu uns in den Garten“, sagte ich leise. „Ich massiere dir den Nacken, damit du dich ein bißchen entspannst und noch lernen kannst.“
Jörn warf mir einen dankbaren Blick zu und lief weiter über den Innenhof. Roddy kam uns mit Eileen nach. Er sagte: „Verdammter Mist! Kann ich euch helfen?“
„Um Sabine kümmert sich schon der Mikesch“, erwiderte Carmen, die noch röter geworden war, wie immer, wenn sie Roddy traf.“Nell, wenn du das Messer und den Franzbranntwein holst, gehen Roddy und ich jetzt zu den Reitschülern und helfen Matty, damit sie nicht ewig hier herumstehen. Wir müssen dafür sorgen, daß sie im Stall sind und sich um die Pferde kümmern, wenn Sabine von den Sanitätern abgeholt wird. Ein Glück, daß heute wenigstens keine Eltern auftauchen!“
Ja, das war immerhin ein Trost. Allerdings würden die Reitschüler natürlich sofort erzählen, was vorgefallen war, sobald sie nach Hause kamen! In düsterer Stimmung öffnete ich die Tür zu der riesigen, ziemlich ungemütlichen Gutsküche. Hier war es sehr still bis auf das eintönige Ticken einer Uhr und das Summen der Fliegen die gegen die Fensterscheiben prallten. Eine von den schwarzweißen Katzen – es gab insgesamt allein drei schwarzweiße Katzen auf Dreililien, die niemand auseinanderhalten konnte – sprang bei meinem Eintritt von einem Stuhl und strich mir maunzend um die Beine.
„Ich hab jetzt keine Zeit, dich zu streicheln“, sagte ich. „Hier ist heute der Teufel los, aber das kümmert dich natürlich wenig, Katze.“ Und ich ging zum Kühlschrank und goß heimlich etwas Milch in das Katzenschälchen.
Während sie schnurrend die Milch aufleckte, fand ich ein Fleischermesser, das ausgesprochen gefährlich aussah, ging ins Badezimmer, holte die Flasche mit Franzbranntwein und rannte in die Halle zurück und aus dem Haus. Das Telefon schrillte, aber ich kümmerte mich nicht darum. Der Innenhof war jetzt leer; nur Diana saß vor der Tür zur Treppe, die in die Fuhrknechtskammer führte, und wartete auf Jörn.
Auf halbem Weg kam mir Mikesch entgegen. „Ich muß Sabines Eltern anrufen“, sagte er. „Es hat keinen Sinn, sich länger davor zu drücken; sie müssen es ja doch erfahren.“
„Pfui Teufel, ja.“ Ich hätte nicht mit ihm tauschen mögen, doch natürlich hatte er recht. „Soll einer von uns mit Sabine ins Krankenhaus fahren, was meinst du?“
Mikesch nickte. „Das mach ich schon.“
Es war typisch für Mikesch, daß er unangenehme Dinge tat, ohne sie auf andere abzuwälzen oder große Worte zu machen. Er drückte sich nie vor einer Verantwortung. „Wenn die Sanitäter inzwischen kommen, sag ihnen, sie sollen auf mich warten. Ich hoffe, daß ich bald wieder vom Telefon wegkomme.“
„Hoffentlich.“ Ich sah ihm nach und stellte mir den Redeschwall vor, mit dem Frau Mayreder ihn überschütten würde. Dabei lief es mir kalt den Rücken herunter. Er war wirklich nicht zu beneiden.
Die Ambulanz tauchte zehn Minuten später auf, gerade als die Reitschüler die Pferde wieder auf die Koppel brachten. Natürlich blieben sie alle wie angewurzelt stehen und beobachteten mit großen Augen, wie Sabine auf einer Bahre über den Hof getragen und ins Sanitätsauto geschoben wurde.
Dann ging alles sehr schnell. Mikesch stieg ein und setzte sich neben Sabine. Ich erhaschte noch einen Blick auf ihr blasses Gesicht, die Sanitäter schlugen die Türen zu, und der Wagen fuhr los.
Lisa versuchte uns zu trösten. „So schlimm ist es doch gar nicht“, sagte sie laut. „Den Fuß kann sich jeder mal brechen. Das kann einem auch passieren, wenn man aus dem Bett fällt. Eine Tante von mir . . .“ Und sie erzählte eine lange, umständliche Geschichte von ihrer Tante, die nachts aus dem Hochbett gefallen war und sich den Knöchel gebrochen hatte.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich mußte an Sabine und Mikesch denken und an Frau Mayreder, die die beiden bestimmt schon wie ein Racheengel im Krankenhaus erwartete. Neben mir stieß Matty einen tiefen Seufzer aus. Jörn stand ein wenig abseits, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und starrte auf das abgetretene Pflaster.
Langsam und zögernd machten sich die Reitschüler auf den Heimweg. Carmen und Roddy fuhren mit der Mähmaschine zur Erlenwiese. Ich holte Hazel von der Koppel, sattelte und zäumte sie und ging dann zusammen mit Jörn zum Kavaliershäusl.
Hazel folgte uns mit schleifenden Zügeln. Im Wald rief der Kuckuck, und die Bienen summten in Kirstys Bauerngärtchen. Es war alles sehr friedlich und schön, doch ich mußte an einen von Hopfis philosophischen Sprüchen denken, den sie besonders oft und gern benutzte: „Es muß immer was passieren, was den Himmel hebt.“
Als die Pfingstferien kamen, waren Jörns Prüfungen vorbei. Zwar hatte er das Ergebnis noch nicht erfahren, doch er wirkte zuversichtlich und sehr erleichtert und meinte, er hätte das Abitur wohl bestanden, wenn auch sein Notendurchschnitt ziemlich bescheiden ausfallen würde.
„Aber nachdem ich sowieso keine Lust habe, mal eine steile Karriere zu machen, kratzt mich das wenig“, sagte er.
Wir hatten schon oft darüber geredet„ wie wir uns unsere Zukunft vorstellten. Ich selbst wußte noch nicht, welchen Beruf ich einmal ergreifen wollte; und Jörn war einigermaßen unsicher. Er spielte mit dem Gedanken, eines Tages zusammen mit Matty das Gestüt und die Reitschule zu übernehmen. Vorerst aber war Dreililiens Leitung noch in den Händen seines Vaters, und es sah nicht so aus, als würde Herr Moberg sich so bald vom Geschäft zurückziehen. So wollte Jörn erst einmal seinen Zivildienst leisten. Er hoffte, daß es sich während dieser sechzehn Monate vielleicht von selbst ergab, wie es mit ihm weitergehen würde.
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