Ich sah ihn mit Emily hinter dem Gutshof auftauchen, und es ging mir wieder einmal durch den Sinn, wie leid es mir tat, daß seine erste Liebe so schwierig sein mußte, daß sie nur aus Briefen, kurzen Begegnungen und langen Trennungen bestand.
Matty hatte uns offenbar ebenfalls bemerkt, denn er lenkte Emily über den Verbindungsweg, der zur Südweide führte. Dann schwang er sich aus dem Sattel, ließ die Stute mit schleifenden Zügeln am Wegrand zurück, wo sie eifrig an den Grasbüscheln zupfte, und kam auf uns zu.
Eine Weile blieb er neben uns stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und beobachtete, wie Jörn die letzten Nägel einschlug. Ich musterte Matty von der Seite. Daß ihn etwas bedrückte, war klar. Er konnte sich nicht verstellen, selbst wenn er es gewollt hätte. Ich hatte ihn so gern; er war wie ein Bruder für mich, dem man Achtung und Vertrauen entgegenbringt. Auf Matty konnte man sich verlassen wie auf kaum einen anderen Menschen. Er war immer da, wenn man ihn brauchte – und ich hätte ihm so gern geholfen, wenn ich es nur gekonnt hätte. Doch ich stellte keine Fragen; ich wußte, daß ich ihn nicht drängen durfte.
Schließlich sagte er: „Die ganzen Zäune müßten neu gemacht werden. Das ewige Flickwerk bringt auch nicht viel.“
Jörn seufzte. „Was müßte nicht alles gemacht werden . . . Wenn’s danach ginge, müßten wir den ganzen Hof abreißen und neu aufbauen.“
„Den Hof abreißen?“ Ich starrte ihn an. „Das würdest du doch nie tun, oder? Ich meine, wenn du plötzlich Geld erbst oder im Lotto gewinnst, würdest du doch Dreililien nicht abreißen lassen?“
Er lachte. „Nimm doch nicht gleich alles so wörtlich! Ich würde den Hof schon so lassen, wie er ist; aber er müßte von Grund auf renoviert werden. Im übrigen brauchen wir uns gar nicht darüber zu unterhalten, weil Leute wie wir sowieso nie zu Geld kommen.“
Matty machte ein finsteres Gesicht. „Immer die gleiche Scheiße!“ sagte er. „Dauernd hängt alles vom Geld ab!“
Das war es also. Ich ließ alle vornehme Zurückhaltung fallen und platzte damit heraus: „Kann Maja zu Pfingsten nicht kommen? Geben ihr ihre Eltern das Geld für die Reiterferien nicht?“
Matty starrte zu Boden. „Sie geben es ihr nicht, weil sie’s nicht haben“, erwiderte er. „Ihr Vater hat seinen Job verloren. Die Firma, für die er arbeitet, hat pleite gemacht.“
Jörn musterte ihn. „Oh, verdammt“, sagte er nur.
„Dann soll sie eben herkommen, ohne was zu bezahlen“, fuhr ich dazwischen. „Wir reden mit Mikesch. Er kriegt das schon irgendwie hin.“
Matty zuckte mit den Schultern. „Daran hab ich auch schon gedacht, aber Maja will es nicht. Sie sagt, sie will keine Almosen, und daß wir das Geld auch brauchen und so . . . Ihr kennt sie ja, sie läßt sich nichts schenken.“
„Das braucht sie auch nicht“, sagte Jörn. „Sie soll herkommen und uns bei der Arbeit helfen. Dafür bekommt sie dann Reitunterricht. Wenn sie im Stall mithilft, kann sie dafür bei uns essen und wohnen. Das ist doch ein faires Angebot, oder?“
„Genau“, stimmte ich eifrig zu. „Wir brauchen jetzt sowieso dringend Hilfe, wo Jörn mitten im Abitur steckt, schreib ihr das! Hat sie Geld für die Bahnfahrt?“
Ein Hoffnungsschimmer zeigte sich auf Mattys Gesicht. „Sie wollte ursprünglich mit dem Fahrrad kommen – das war aber, ehe ihr Vater seine Kündigung bekommen hat.“
„Mit dem Fahrrad?“ sagte ich. „Die ganze Strecke von Aschaffenburg bis hierher?“
„Für Maja ist das kein Problem“, erwiderte Matty stolz.“Sie würde zwischendurch einfach in Jugendherbergen übernachten.“ Er sah sich um. „Ich bring Emily jetzt in den Stall, und dann rufe ich Maja gleich an und frage sie.“
Seine warmherzigen Augen hatten wieder das alte Leuchten. Lieber Matty! dachte ich und rief ihm noch nach: „Sag ihr, daß wir sie dringend brauchen, weil Jörn nicht mitarbeiten kann! Sie darf uns nicht im Stich lassen!“
„Den hat’s richtig erwischt“, murmelte Jörn, während er den Werkzeugkasten auf den Leiterwagen lud. „Ich hätte nicht gedacht, daß ihm das auch mal passieren könnte – meinem kleinen Bruder Matty.“
Ich sagte: „Dein kleiner Bruder Matty ist nicht mehr klein, merkst du das nicht? Er ist im Winter ein ganzes Stück gewachsen, und sein Gesicht hat sich verändert. Matty ist nur drei Monate jünger als ich. In ein paar Wochen wird er sechzehn.“
Der Kuckuck schrie aus dem Wald. Aus dem Dorf kamen verwehte Glockenklänge zu uns herüber – das Vesperläuten, wie es die Bauern hier nannten. Wir griffen nach der Deichsel des Leiterwagens und zerrten den Wagen den steinigen Pfad entlang zum Kreuzweg. Im Rattern und Knirschen der alten Wagenräder gingen alle anderen Geräusche unter.
Vor uns lag der Hof von Dreililien im Licht der Spätnachmittagssonne – die viereckige Wohnanlage, von einem Torbogen verbunden, der das steinerne Wappen mit den drei Lilien trug, die Dachtraufen in der Form feuerspeiender Drachen, die grauen, schon etwas eingesunkenen Schindeldächer. Der Innenhof mit der Linde und dem Ziehbrunnen war von Licht überflutet. Blühende Fliederbüsche nickten über das alte Gemäuer. Schwalben flogen durch die Stallfenster aus und ein, und unter einem Dachvorsprung nistete ein Wildtaubenpaar.
Wie schon so oft spürte ich auch diesmal den eigenartigen Reiz, der von diesem mächtigen Gutshof ausging. Der Hauch von Verfall schien ihn nur noch anziehender zu machen, war ein Teil von Dreililiens Zauber. Und über allem lag der herbe Geruch von Pferden – jener Geruch, der für mich untrennbar mit Dreililien verbunden war.
Ich blieb stehen und atmete tief ein. Jörn sah mich von der Seite an, lachte und sagte: „Du bist hoffnungslos romantisch, Nell.“
Ich mußte ebenfalls lachen. „Sag bloß nicht, du würdest ihn nicht lieben. Ich weiß, daß du es tust – du und Matty. Ihr liebt den Hof, mehr noch als ich.“
Das Lachen verschwand aus Jörns Gesicht. „Ich glaube schon“, erwiderte er ruhig. „Ich würde wohl immer hierher zurückkehren; ich möchte nie an einem anderen Oft leben. Dreililien ist nicht nur mein Zuhause, der Ort, an den ich gehöre. Manchmal denke ich auch, es ist ein Stück von mir. Verstehst du das?“
Langsam nickte ich. Ja, ich verstand ihn. Doch zugleich verspürte ich auch ein leises Gefühl von Traurigkeit, etwas wie Neid, weil ich selbst eine solche Zugehörigkeit zu einem Haus und einem Stück Land nie gekannt hatte.
Kathrinchen bekam Zähne und schrie täglich stundenlang in den jämmerlichsten Tönen. Kirsty und Vater konnten kaum noch schlafen, und ich löste das Problem, indem ich mir nachts Watte in die Ohren steckte.
„Der Mensch ist ein geplagtes Tier“, sagte Frau Hopfwieser philosophisch, die jetzt zweimal wöchentlich ins Kavaliershäusl kam, um Kirsty im Haushalt zu helfen. „Zuerst plagen einen die Zähne, wenn sie kommen, und dann plagen sie einen, bis sie wieder draußen sind.“ Und sie sah mit einem tiefsinnigen Seufzer ins Abwaschwasser.
Ich fragte: „Sie kommen doch in den Pfingstferien wieder nach Dreililien und versorgen die Reitschüler, Hopfi?“
„Ja, freilich. Hab’s schon mit dem Herrn Mikesch ausgemacht.“ Sie warf Kirsty, die im Schaukelstuhl saß und Kathrinchen stillte, einen besorgten Blick zu. „Hoffentlich können’s die zwei Wochen ohne mich auskommen.“
„Es wird schon gehen“, sagte Kirsty. „Dann ist’s eben mal nicht so sauber bei uns. Herr Alois wird selig sein, wenn er seine Knochen wieder einige Zeit unter dem Teppich vergraben kann, ohne daß sie gleich jemand findet.“
Herr Alois, Kirstys wuscheliger brauner Hund, kam unter dem Tisch hervor, als er seinen Namen hörte. Er machte ein unschuldiges Gesicht; so, als wüßte er überhaupt nicht, was ein Knochen ist, und als wäre ihm die Möglichkeit völlig fremd, irgend etwas unter einem Teppich zu verstecken.
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