„Heute Abend kommt Ihr alle zu uns zum Essen!“, sagte Doris und sie freuten sich über die Einladung. Es war noch früher Nachmittag und sie hatten sich alle nach draußen in die schon leicht wärmende Sonne gesetzt. Die Kinder waren im Haus und spielten in ihrer Spielecke. Das ganze Spektakel am Strand in Zandvoort hatten sie schon längst wieder vergessen, und Daniel benahm sich so, als wäre nie etwas geschehen, er saß bei Christine, die mit den Kleinen ein Bilderbuch anschaute. Die Essener und Göttinger würden noch den Dienstag in Amsterdam verbringen und am Mittwoch Mittag wieder nach Haue fahren. Das fanden sie alle sehr schade, wäre aber nicht zu ändern, denn die Göttinger, Lisa, Petra und Manfred müssten wieder arbeiten, die anderen hätten noch Ferien, aber Christine und Bernd mussten sich darauf vorbereiten, danach in die Schule zu gehen und brauchten ein wenig Vorlauf. Aber sie sähen sich ja alle in drei Monaten in Göttingen wieder, von daher ließ sich die Trennung schon ganz gut verkraften.
Für die Großeltern war der Trennungsschmerz besonders stark, sie liebten ihre Enkelkinder abgöttisch, und Agnes und Robert zählten immer die Tage, die bis zu einem erneuten Zusammentreffen mit ihnen vergingen. Und wenn sie sich schließlich alle wiedersahen, verging die Zeit wie im Flug und sie waren anschließend wieder allein. Aber Agnes und Robert waren gefestigt genug, mit ihrer Zeit etwas anzufangen, sie lasen viel und gingen öfter ins Konzert oder ins Theater, von daher wussten sie die Zeit sinnvoll zu überbrücken. Auch Iris, Piet, Doris und Max kamen zurecht, weil sie mit sich etwas anzufangen wussten, im Übrigen trafen sie sich auch untereinander, spielten zusammen Karten und unterhielten sich. Doris und Max standen auf und gingen, weil sie noch Vorbereitungen zu treffen hatten, und auch Iris und Piet gingen noch einmal zu sich nach Hause, bevor sie sich alle wieder in der Tuinstraat trafen. Bei Goldschmids machten alle eine kleine Nachmittagspause, während der sich die Alten hinlegten, und die Kinder nach Möglichkeit keinen Krach machen sollten. Die Pause dauerte nur eine Dreiviertelstunde, und die jungen Eltern saßen draußen auf der Terrasse und sprachen über den Sommer, der nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen würde. Aber es waren immerhin noch vier Monate, die sie vom Sommer trennten, und in diesen vier Monaten würde für Christine und Bernd ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnen. Lisa und Marga wollten sie mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Kraft unterstützen, wenn sie Schülerin und Schüler geworden wären.
Als die Nachmittagspause vorüber war, zogen sich alle ihre Jacken über, denn es würde sicher frisch werden, wenn sie am Abend von Doris und Max wieder nach Hause laufen würden. Sie liefen vor die Tür und sammelten sich zuerst einmal alle, jeder überprüfte, ob er alles beisammen hatte und als das der Fall war, gingen sie los. Die Temperatur draußen war noch sehr angenehm, sobald die Sonne verschwunden wäre, würde es aber empfindlich kalt werden. Sie erreichten nach zehn Minuten die Tuinstraat und schellten. Früher war es immer Doris´ Angewohnheit, in der Tür zu stehen und dort auf den eingeladenen Besuch zu warten, heute hatte sie aber in der Küche zu tun. Max öffnete die Tür zu dem Haus, in dem damals alles mit den jungen Leuten angefangen hatte, in dem sie sich kennen gelernt hatten, und in dem sie ihre ersten Liebeserfahrungen machten. Da gab es schon ein großes Erinnerungspotenzial bei den jungen Leuten, aber sie hatten sich vorgenommen, nicht in Erinnerungen zu schwelgen, sondern Doris´ gutes Essen zu genießen. Iris und Piet saßen schon am Esstisch, Doris und Max hatten wie üblich den Terrassentisch und die Terrassenstühle hereingeholt und alles zusammengeschoben. Doris hatte ein großes Laken über die Tisch gelegt, und so war von dem Provisorium nichts mehr zu erkennen. Als sie alle saßen, war es sehr gemütlich, weil sie eng beieinander saßen, was die gute Stimmung förderte und als Max auch noch nach Schnaps fragte, und alle Alten einen tranken, war die Stimmung perfekt.
Max hatte immer schon einen jonge Genever und einen guten Remy Martin im Angebot, und Bärbel, Agnes und Martha ließen sich einen Cognac geben, Max nahm auch einen. Max hob sein Schnapsgläschen hoch und wünschte der Runde einen schönen Abend, alle kippten ihren Schnaps in einem Zug hinunter, und die Frauen und Max nahmen noch einen zweiten Cognac. Agnes und Bärbel halfen Doris dabei, das Essen hereinzutragen und auf den Tisch zu stellen. Doris hatte zwei Puten im Backofen gebraten, es gab deshalb ordentlich Fleisch für alle und Doris könnte mit Max noch einige Tage von den Resten essen. Vielleicht würde sie die anderen noch einmal einladen, hatte sie überlegt. Wenn man Doris und Agnes miteinander verglich, fiel auf, dass Doris in ihren Charakterzügen weicher war als Agnes. Sie war auch die Jüngere, aber das spielte bei dem Vergleich der beiden Frauen miteinander keine Rolle. Es gab auch nicht viele Situationen, in denen Doris ihre weichere Seite zum Vorschein kommen ließ, jedenfalls spielte diese Eigenschaft in Anwesenheit des deutschen Besuchs auch keine Rolle. Wenn sich die Alten aber in Amsterdam trafen und sich beim Kartenspiel zum Beispiel schon einmal zofften, konnte sich Agnes in eine Rage steigern, in der sie kaum noch zu bremsen war. Doris war bei solchen Gelegenheiten die Mäßigende, die die Gemüter wieder besänftigte. Das war schon früher in Essen-Werden so, als Agnes und sie noch als Mädchen zu Hause gelebt hatten.
Immer wenn Agnes sich höllisch aufregte, weil zum Beispiel ihre Mutter Dinge von ihr verlangte, die sie auf Grund ihres Altersvorsprungs vermutlich besser erledigen konnte als Doris, versuchte Doris ihre Schwester wieder auf den Teppich zu holen und brachte damit Agnes´ Wut beinahe zum Überkochen.
Agnes war aber eindeutig die Intelligentere von beiden, sie hatten zwar beide ihr Abitur gemacht und brachten von daher gleiche Bildungsvoraussetzungen mit. Agnes baute aber ihr Bildungspotenzial aus und studierte Zeitungen und Bücher, sie interessierte sich für Politik und machte sich sachkundig, während Doris sich nicht regte und ihre Bildung mehr oder weniger verkümmern ließ. Max stellte sich mit einem langen Tranchiermesser an den Tisch und begann, die Puten zu zerlegen. Er gab jedem ein mächtiges Stück Fleisch auf seinen Teller und den Kindern die knusprige Haut, die sie am liebsten aßen. Max war von den Alten der vielleicht ruhigste Vertreter, das machte ihn auf der einen Seite sympathisch, erweckte aber auf der anderen Seite den Eindruck, dass er desinteressiert an allem, wenn nicht sogar apathisch war. Dass dieser Eindruck aber trog, stellte Max immer unter Beweis, wenn es darum ging, grundlegende politische Positionen zu verteidigen, was manchmal vorkam, wenn er sich mit den anderen und Piet stritt, ansonsten blieb er eher still und verhalten. Sie aßen das Putenfleisch alle mit Hochgenuss und fanden für Doris Kochkunst lobende Worte.
„Wollt Ihr nicht doch auch mal ein Stück Fleisch probieren?“, fragte Petra die Kinder, aber die Kinder winkten dankend ab. Doris hatte einen Feldsalat zu den Puten gemacht, der ausgezeichnet zu dem Geflügel passte, und als alle ihre erste Portion gegessen hatten, sagte Iris:
„Und Morgen Abend kommt ihr alle zu uns zum Essen!“ Die Männer nahmen alle noch ein zweites Mal von der Pute, während die Frauen sich zurückhielten. Robert lobte Doris noch einmal ganz besonders, als er sich einen Putenbollen auf seinen Teller legte:
„Du hast das Fleisch ganz hervorragend zubereitet!“, und Doris labte sich an Roberts Lob. Robert war ein Mann klarer Worte so wie auch Agnes, aber Robert war nie so direkt wie seine Frau. Wenn er etwas sagte, hatte das Bestand, das wussten auch alle, er war aber bereit, das, was er sagte, zumindest in Teilen zu revidieren, wenn er eines Besseren belehrt wurde, was aber nur sehr selten geschah. Wenn Robert etwas von Bedeutung von sich gab und dabei dozierend vor seinen Zuhörern stand, faltete er die Hände, drehte die gefalteten Hände nach innen und drückte sie vom Körper weg. Das tat er schon sehr lange und es war quasi sein Markenzeichen geworden, so wie Agnes ein „nicht wahr“ an bedeutungsvolle Worte hängte. Das gemeinsame Essen hatte für alle einen sehr hohen Stellenwert, weshalb sich diejenigen, die das Essen gerade ausrichteten, auch immer große Mühe gaben, und die Frauen standen sich dabei in nichts nach. Egal, ob sie bei Agnes, Doris oder Iris aßen, das Essen war bei ihnen immer von sehr guter Qualität und wurde immer in höchsten Tönen gelobt.
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