Zermürbt von schlecht bezahlter Arbeit und sexuellen Übergriffen der Chefs, hoffte Ioannis' Mutter schließlich durch die Heirat mit einem scheinbar wohlhabenden Geschäftsmann, für ihre Söhne und sich sorgen zu können. Nach der Trauung stellte sich jedoch schnell heraus, dass der neue Gatte hochverschuldet war, so hoch, dass das Ehepaar vor seinen Gläubigern nach Deutschland fliehen musste. Ioannis und sein Bruder kamen ins Internat, das ihr Vater finanzieren sollte. Dieser wählte die billigste Einrichtung, direkt an der albanischen Grenze, und dort gab es reichlich Kälte, Schläge und Hunger. Nach Ioannis' Abitur konnten die beiden endlich ihrer Mutter nach Deutschland folgen.
Diese hatte sich inzwischen mit unendlicher Willenskraft und verbissenem Fleiß von einer schlecht bezahlten Pelznäherin zur Besitzerin eines Pelzgeschäftes in F. hochgearbeitet, das zunehmend expandierte. Ihren nichtsnutzigen Ehemann musste sie mit durchfüttern. Alle seine Kinder ließ sie ohne sein Wissen abtreiben, wenn sie alleine nach Griechenland flog, um angeblich ihre Verwandten zu besuchen – bei Frauen, die auch vor Abtreibungen im sechsten Monat nicht zurückschreckten.
Ioannis' Bruder zog zu Mutter und Stiefvater und er selbst begann in M. Soziologie und Philosophie zu studieren.
Als ich Ioannis kennenlernte, war er dreiunddreißig, hatte seinen Doktor cum laude in Soziologie längst gemacht und lag immer noch seiner Mutter und dem Arbeitsamt auf der Tasche, wodurch er unbeschwert leben konnte. Mit Geld ging er stets ostentativ großspurig um. Seine Mutter hatte ihm auch die Harley Davidson finanziert, mit der er ausgedehnte Reisen vor allem in Nordafrika unternommen hatte. Ab und zu flog er nach Indien und schmuggelte im Innenfutter seiner schweren Lederstiefel das beste Haschisch ins Land, das ich je geraucht hatte. Er brüstete sich damit, in M. mindestens 1000 Frauen flachgelegt zu haben. Damals gab es noch keine arabische Migrantenwelle und keinen fundamentalistischen Terror – Ioannis' eher orientalische als griechische Erscheinung wirkte ungewöhnlich und anziehend auf Frauen in Verbindung mit seinem forschen Auftreten und seiner Sprachgewandtheit und Bildung. Nur zu Beginn seiner Karriere als Don Juan hatte er ein einziges Mal eine längere Beziehung, die der Vater der jungen Frau jedoch boykottierte.
Ioannis verfügte über ein beeindruckendes Allgemeinwissen und war in vielen Bereichen sehr beschlagen. Zudem meditierte er schon seit Jahren, nahm Privatunterricht bei einem Karatelehrer, versenkte sich im Zen-Ritual der Teezubereitung und in Literatur über unterschiedlichste Richtungen zur Bewusstseinsentwicklung. Ioannis hatte zweifelsfrei eine spirituelle Ausrichtung, aber seine sexuelle Zwanghaftigkeit diskreditierte ihn in meinen Augen von Beginn an.
Ioannis hielt mir nächtelange Vorträge, und die Themen reichten von den Sozialanalysen Marcuses bis zu den großen griechischen und deutschen Philosophen. Dazu hörten wir Frank Zappa und rauchten einen Joint nach dem anderen. Ich war von seinen Monologen, dem stundenlangen Sex und dem starken Haschisch so benebelt, dass ich oft tagelang nicht seine Wohnung verließ. Aber ich verstand mich als emanzipierte Frau und wollte eigenes Geld verdienen. So begann ich noch einmal einen Job als Packerin. Nach der anstrengenden Arbeit konnte ich mich kaum auf den Beinen halten. Ioannis überredete mich, zu ihm zu ziehen, mein kleines Zimmer in der Innenstadt aufzugeben und vom Zuschuss meiner Eltern zu leben.
In den ersten drei Monaten bemühte sich Ioannis sehr um mich.Trotz seines sexuellen Machismus beeindruckte ihn offensichtlich gerade meine Intelligenz. Auch im Bett versuchte er noch freundlich, meinen Körper zu erwecken. Und er war wirklich verliebt. Viele Jahre danach las ich erstaunt die Briefe, die er mir geschrieben hatte. Diese Worte stammten von meinem späteren Folterknecht?
Für Ioannis hatte ich viele Vorzüge: Jugend, Schönheit und intellektuellen Hunger in Kombination mit Lebensuntauglichkeit und Ziellosigkeit. Und niemanden, der sich um mich kümmerte. Kein wachender Vater, keine fürsorgliche Mutter. Vogelfrei und wie geschaffen, um von ihm geformt zu werden. Meine Minderwertigkeitsgefühle, Unreife und leicht zu weckenden Schuldgefühle waren perfekte Hebel, um mich zu manipulieren.
Dass es Ioannis ernst war, spürte ich daran, wie viel er mir aus seinem Leben erzählte. Und dass er – ganz bürgerlich, ich war erstaunt und unangenehm berührt – meine Eltern kennenlernen wollte. Mein Vater zeigte sich beeindruckt von seiner Bildung, meine Mutter flirtete mit ihm, und Ioannis ging geschmeichelt darauf ein. Aber die Sympathie meiner Eltern für Ioannis währte nicht lange. Er schaffte es, sich mit jedem zu überwerfen. Auch mit meiner Schwester, die uns ein paarmal besuchte. Sie erzählte meinen Eltern, dass Ioannis ein Drogendealer sei und sie ihn für einen gewaltbereiten Menschen hielt, aber das bewegte meine Eltern zu keiner Reaktion.
Ioannis war stolz auf mich. Er führte mich bei seinen griechischen Freunden vor wie eine wertvolle Araberstute, mit der er mich auch oft verglich. Ich hingegen war im Kreise dieser Männer verschüchtert und fühlte mich ihren politischen Diskussionen nicht gewachsen, obwohl ich schon damals erkannte, dass sie alle Stammtischrevoluzzer waren, die es sich längst in festen Positionen bequem gemacht hatten. Aber ich musste seine Freunde nicht oft ertragen. Nachdem mich alle gesehen hatten, ließ mich Ioannis zu Hause, wenn er ausging. Das war mir recht. Ich war froh, für ein paar Stunden meine Ruhe zu haben.
Ioannis' theoretisches Erziehungsprogramm fiel auf fruchtbaren Boden: Endlich lernte ich jemanden kennen, der in großen Zusammenhängen dachte, anderes im Sinn hatte als Karriere und kleines persönliches Glück, und der bereit war, sich über gesellschaftliche Normen hinwegzusetzen. Seine anarchistisch gefärbten politischen und soziologischen Exkurse gaben meiner diffusen, antibürgerlichen Haltung eine ideologische Basis. Er postulierte hohe soziale und ethische Ideale und wiedererweckte damit in mir meinen verschütteten und rein verkopften Anspruch an mich selbst: ein moralisch integrer Mensch zu sein.
Ioannis wollte sein Leben in den Dienst der spirituellen Entwicklung der Menschen stellen. Das wollte er tatsächlich, und es schien ihm nicht aufzufallen, wie sehr dieser Wunsch in krassem Widerspruch zu seiner obsessiven und Frauen benutzenden Sexualität und seinem übermächtigen Ego stand. Für mich machte ihn diese Diskrepanz als wirklich höherstehenden Menschen unglaubwürdig, auch wenn er mir wissens- und erfahrungsmäßig haushoch überlegen war. Seinen Lebensstil jedoch fand ich konsequent und einladend. Seine Bereitschaft zu kriminellen Handlungen entsprach meiner Lust am Risiko. Er reiste viel und nahm sich die Freiheit zu leben, wie er wollte. Seine Weigerung zu arbeiten begründete er damit, dass man in einem kapitalistischen System immer entweder ausbeutete oder ausgebeutet wurde.
Ein Leben lang ließ er andere für sich arbeiten, aber das begriff ich damals noch nicht.
Nach dem weltanschaulichen Basisunterricht drehten sich seine Reden zusehends um spirituelle Themen. Es war das erste Mal, dass ich mit Esoterik in Berührung kam. Zuerst ließ mich Ioannis Carlos Castaneda lesen, und natürlich sprachen dessen schamanische und drogeninduzierte Erlebnisse meinen Hunger nach Abenteuer an. Unter Ioannis' Führung warf ich einige Mescalin- und LSD-Trips, um mein Bewusstsein zu erweitern. In den Horrortrips, die daraus resultierten, sandte mir mein Unterbewusstsein bezüglich Ioannis klare Botschaften.
Ioannis bot mir ein Koordinatensystem für mein Leben, aber ich war nicht in ihn verliebt. Er gefiel mir nicht einmal als Mann. Mich stießen seine rasierte Glatze, sein Dschingis Khan-Schnurrbart und seine übertrieben virile Körpersprache ab.
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