Doch zurück in die Gegenwart zu dem Anruf, der Peters Ruhe so jäh unterbrochen hatte. Nachdem er sich gemeldet hatte, hörte er am anderen Ende der Leitung zunächst nichts weiter als ein aufgeregtes und unverständliches Stimmengewirr.
„Wer iss nern dord bidde? Hallo! Hallo!“
Auf sein spürbar ungeduldiges Nachhaken hin meldete sich endlich eine aufgeregte Stimme, die er natürlich sofort erkannte, allein durch ihren Klang, auch ohne dass sich die Anruferin explizit mit ihrem Namen gemeldet hätte und trotz der am anderen Leitungsende herrschenden Verwirrung. Trotzdem fragte er reflexartig:
„Heidi, bissd ers du? Woss iss denn bei euch los? Und woss iss nern dess für a Gwerch im Hindergrund?“
In diesem Moment gab es einen dumpfen Knall. Anscheinend war der Hörer zu Boden gefallen. Nach einem aufgeregten, aber wegen fehlender Nähe zur Sprechmuschel nahezu unverständlich klingenden Ruf „Dess hod etz grod no gfehlt“ oder so ähnlich, da meldete sich eine weitere, diesmal deutlich jüngere Stimme.
„Opa, bissd as du? De Mamma is von der Loata obi gfoin und hod si sauber wos broocha.“
Es folgte anscheinend ein kurzes aber heftiges Handgemenge um die Vorherrschaft über das Telefon, das sich durch ein gelegentliches Stöhnen und dem erfolglosen Bemühen ein heftiges Schimpfen zu unterdrücken manifestierte. Letztlich meldete sich wieder Heidi, die Tochter der Kleinleins. Wie es schien hatte sie kurzfristig die Oberhoheit über die Kommunikationseinrichtungen im Hause Kellermann zurück erobert.
„Ja, Babba, dess stimmt schoo.“
Wieder dieses seltsame Gemisch aus Bayerisch und vereinzelten fränkischen Resten.
„Der Hund hat die Leiter umgschmissn und ich bin auf den Bodn gfalln und jetzt muass i ins Kranknhaus. Ich konn ned lang redn. Die woin losfahrn. Horch Babba, könnt ihr euch so lang um den Basti kümmern, der Markus is in Indien auf Gschäftsreise und ich hob sonst koan.“
„Na horch amal Kind, dess iss doch ka Fraach nedd, mier kummer sofford. Dou brauchsd der kanne Sorng machen. Glei setz mer uns ins Audo und fohrn los. In zwaa Schdund simmer dou.“
„Und reech di nedd auf, Madler“, rief er noch hinterher, aber sie hatte bereits aufgelegt.
Das mit dem “wir kommen“ war natürlich eine völlig falsche Formulierung, eine leere Versprechung, nur der Routine geschuldet, auch wenn es ihm im diesem Moment gar nicht bewusst war, denn niemand konnte vorausahnen wann die Marga von ihrem Einkaufsbummel wieder zurück sein würde. Gottseidank hatten die Damen das Auto nicht mitgenommen. Heute hatten sie, auch weil sie aufgrund der zu erwartenden Menge an Päckchen und Tüten natürlich nicht mit der S-Bahn fahren konnten, den geräumigen Mercedes der Bräunleins vorgezogen. Peter kritzelte noch rasch einen entsprechenden Hinweis auf einen Zettel und deponierte diesen auf dem Küchentisch, wo ihn die Marga sicher nicht übersehen konnte. Dann schnappte er sich im Flur den Autoschlüssel und trabte eilig zur Garage, nicht ohne zuvor noch schnell sein Handy einzustecken.
Er neigte zwar dazu es immer wieder zuhause zu vergessen, obwohl er seiner Marga, die überzeugt war, dass das meist sogar absichtlich geschah, schon zum x-ten Mal geschworen hatte, es stets mitzunehmen, wenn er das Haus verließ. Erst Recht nach seinem überraschenden Infarkt im vergangenen Jahr. Dieses Mal konnte er sich einen solchen Fauxpas einfach nicht erlauben. Angesichts der auf dem Esstisch hinterlassenen alarmierenden Nachricht würde sie sich sowieso fürchterlich aufregen und ohne die Möglichkeit ihn zu erreichen würde die Lage schnell eskalieren. Das durfte er ihr natürlich nicht zumuten. Wenige Zeit später bog er bereits auf die Münchner Autobahn ein. Nicht nur sein nervös auf dem Gaspedal wippender Fuß gab deutliche Hinweise auf eine extreme Unruhe. In gut zwei Stunden würde er hoffentlich mehr wissen.
Je näher er seinem Ziel kam, umso mehr Sorgen machte er sich. Die Heidi hatte zwar gesagt, dass sie ins Krankenhaus muss. Aber in welches? Das hatte er in der Aufregung glatt vergessen zu fragen. Und was war mit dem Buben? War der mit dabei oder hatte sie ihn allein zuhause gelassen? Wenn er mitgefahren sein sollte, wie sollte er anschließend wieder heim kommen, wenn wie zu befürchten war, seine Mutter doch einige Zeit in der Klinik bleiben musste? Der Junge war immerhin erst zwölf Jahre alt. Fast hätte Peter einen Motorradfahrer über den Haufen gefahren, so sehr lenkten ihn seine Überlegungen vom Straßenverkehr ab. Der Mann hatte gerade noch eine Vollbremsung hingelegt und winkte noch immer drohend mit dem Zeigefinger. Dann zeigte er Peter sogar den Vogel. O jeh! Er musste sich zusammenreißen. Es durfte nicht noch ein Unglück geschehen. Das Kind war jetzt schließlich ganz auf die Hilfe seiner Großeltern angewiesen.
Er beschloss, erst einmal zu Heidis und Markus‘ Haus zu fahren. Sollte der Bastian zuhause sein, dann wäre diese Vorgehensweise sowieso das Beste, wenn nicht, dann wussten vielleicht die Nachbarn Näheres. Sicherlich waren die Sanitäter mit Blaulicht und Sirene vorgefahren. Da wäre es doch nur zu verständlich, wenn die Nachbarschaft interessiert Anteil genommen hätte.
Noch drei Minuten Fahrzeit zeigte das Navi an. Eine Errungenschaft, die sich die Kleinleins, nach einigen Irrfahrten in der jüngeren Vergangenheit, nun doch endlich zugelegt hatten. Gleich würde er um die Ecke biegen, von der aus man das Einfamilienhaus der Kellermanns schon sehen konnte.
Dess iss doch ka Beinbruch
Er drückte ungeduldig auf die Klingel am Gartentor, dann, nachdem er die kleine Ewigkeit von zehn Sekunden gewartet hatte, noch dreimal, aber niemand kam um ihn einzulassen. Also gut, dann Plan B. Er wandte sich gerade nach links, um bei den nächsten Nachbarn Erkundigungen einzuziehen, als ihn eine weibliche Stimme vom Haus gegenüber anrief.
„San sie der Herr Kleinlein aus Nüanberg?“
Eine Dame um die Fünfzig kam über den gepflasterten Gartenweg in Richtung Straße auf ihn zu.
„D‘ Frau Kellermann hod ma scho gsagd, dass ihra Vadder boi kimmt, wegan Buam. Oba, sie hobn ja goa koa Nüanberga Nummer neda, drum hoobis a ned glei kennt, dass sie der Opa san.“
Peter lächelte freundlich.
„Ja, mir wohner aa nedd direggd in Nürnberch. Mer sachd ner hald bloß immer Nürnberch, wall Rödnbach, dou wo mir dadsächlich herkumma, die Leit erschd amal nedd vill sachd. Und bevor mers hundertmal erglärd. Wissns, Rödnbachs gibbds bei uns in Franggn wäi Sand am Meer. Abber nach Nürnberch hommers daadsächlich nedd weid.“
Nachdem der Höflichkeit Genüge getan war, kam Peter endlich auf den Kern seines Anliegens zu sprechen.
„Wissen sie vielleichd Näheres drüber, woss mid meiner Dochder bassierd iss und vor allem, woss midn Basdi iss. Ob er mid ins Granggnhaus gfahrn iss odder wo er sonsd sei könnd?“
„Jo feili woas is des. Aber kemmern doch erschd amoi einer. Da Bua is so lang bei uns. Mir homma denkd es war besser, wanner ned mitfahrt. Helfa konna der Muatter etz sowieso neda, oiso is besser, wanner dahoam bleibt, des hoasd natürlich bei uns. An Hund hätt er jo eh ned ins Krankahaus mitnehma derfa.“
Also der Basti war einstweilen bei den Nachbarn untergekommen. Schön, dass die Leute so bereitwillig zusammenhelfen, wenn Not am Mann ist. Peter bedankte sich auch entsprechend wort- und gestenreich bei der hilfreichen Dame und fragte schließlich, wo der Junge denn jetzt sei. Im Garten, hinter dem Haus würde er mit dem Jennerwein spielen, war die Antwort der netten Nachbarin, der Frau Stadler, wie sich im Verlauf des Gesprächs herausstellte.
„Midn Jennerwein, aha.“
Man sah ihm deutlich an, dass er keine Ahnung hatte, wovon die Frau Stadler sprach. Der berühmte Wildschütz Jennerwein würde es ja kaum sein. Der lag ja schon seit mehr als hundert Jahren in Schliersee, seinem Heimatort im kühlen Grabe und wartete, wie das Volkslied zu berichten weiß, auf den jüngsten Tag, an dem er uns den feigen Jäger zeigen wollte, der ihn von hint‘ so feig derschossen hat.
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