Als der Basti endlich hinter dem hechelnden Jennerwein her rennend das Wohnzimmer erreichte, da lag seine Mutter bereits mit schmerzverzerrter Miene auf dem harten demolierten Parkett. Die Kratzer, die die Bremsversuche der beiden Kampfhähne sowie die kantige Leiter hinterlassen hatten, waren im Augenblick jedoch eindeutig das geringste Übel. Diesen Schaden könnte man womöglich mithilfe eines Spezialmittels und etwas Sorgfalt wieder herauspolieren. Bei Heidi Kellermann wäre eine derartige Maßnahme allerdings kaum hilfreich, schon gar nicht sofort. Ihre Schulter sah schlimm aus. Abgesehen von den Schmerzen, die sie ihr verursachte, konnte auch ein Laie auf den ersten Blick erkennen, dass sich hier etwas deutlich verschoben hatte. Oh je! Der verzweifelte Basti kauerte mittlerweile neben der verunglückten Mutter, mit flehentlichem Blick hoffend, dass es nicht gar zu schlimm sein würde.
„Mama, soiti vielleicht an Papa oh ruafa, dassa glei hoam kimmt?“
„Na Basti. Hol mer aber as Telefon her. Mir brauchn die Sanitäter. Der Papa konn doch sowieso ned komma, der landet doch scho glei in Indien. Der konn uns die nächstn drei Wocha ganz bestimmt ned helfa.“
Sie sprach in einem eigenartigen Gemisch aus hochdeutsch, bayerisch und einem in Odlfing, wie ihr Wohnort von den Einheimischen ausgesprochen wurde, eher exotisch anmutenden Akzent. Ein sprachlicher Einschlag, den ein intimer Kenner der bayerischen Dialekte zweifelsfrei als middlfränggisch einstufen würde. Das war auch kein Wunder, denn gerade einmal vor eineinhalb Jahrzehnten war sie mit ihrem damaligen Verlobten und jetzigen Ehemann, dem gebürtigen Münsterländer Markus Kellermann aus dem heimatlichen Röthenbach nach München umgezogen. Aus Gründen der besseren beruflichen Perspektive. Zunächst in eine kleine Zweizimmerwohnung, die zwar preislich mit jeder Penthauswohnung in einer kleineren Stadt mithalten konnte, jedoch keinesfalls mit dem damit verbundenen Raumangebot. Als sich dann der Basti überraschend angemeldet hatte kauften sie sich schließlich ein Eigenheim in Odalfing, südöstlich der Großstadt, nicht weit von Markus‘ Arbeitsplatz. Zweifellos ein finanzielles Abenteuer angesichts der horrenden Hauptstadtpreise, die auch vor der näheren Umgebung nicht halt machten, eines an dem sie noch lange abzahlen würden, also in mehrfacher Hinsicht eine Anschaffung fürs Leben.
Als die eilig angeforderten Sanitäter bald darauf eintrafen stand schnell fest, dass zumindest das Schlüsselbein gebrochen und eine Einlieferung in ein Unfallkrankenhaus unvermeidlich war. Eine längere Schaffenspause inklusive. Dort würde man dann sehen, was sonst noch alles in Mitleidenschaft gezogen war.
Schöne Ferien! Was sollte nun mit dem Basti geschehen und wer sollte den Hund versorgen, wenn die Mutter für mehrere Wochen ausfallen würde und der Vater fernab in Indien weilte. Allein zuhause lassen konnte man die beiden auf gar keinen Fall und bei Freunden konnte er kaum unterkommen, denn die waren allesamt bereits in die Ferien aufgebrochen, in den Süden ans Meer oder wie Bastis bester Freund Florian zu den Großeltern an die Ostsee, wo die ein Ferienhaus besaßen. Ja, natürlich, die Großeltern! Das war die einzig mögliche Lösung. Der Krankentransport musste noch einen Augenblick warten. Zuerst wählte Heidi aufgeregt die Nummer ihrer Eltern.
Eine gute und eine schlechte Nachricht
„Kleinlein.“ Peter meldete sich wie immer kurz und prägnant. Immer, das heißt wie immer dann, wenn er überhaupt den Hörer abnahm. Wenn die Marga daheim war, dann wartete er mindestens den fünften Klingelton ab bevor er es wagte ran zu gehen. An diese ungeschriebene Regel hielt er sich schon allein deshalb, weil neunundneunzig Prozent aller Anrufe ohnehin für die Dame des Hauses bestimmt waren und er auf sein Melden hin stets ein „Iss die Marga wohl gornedd nedd derhamm?“ zu hören bekam. Im Moment galt diese Regel jedoch nicht. Heute war die Hausfrau den ganzen Tag nicht zuhause. Sie war schon seit dem frühen Morgen mit Gisela, der heimlichen Chefin der Metzgerei Bräunlein, in geheimer Mission im nahen Nürnberg unterwegs. Für Marga als Vollzeithausfrau stellte so ein Ausflug keinerlei Problem dar, sie konnte sich ihre Zeit nach Belieben einteilen. Für Gisela aber bedeutete das, dass zuhause in der Metzgerei die wichtigste Kraft ausfallen würde, jedenfalls soweit es den Verkauf und die Organisation des Betriebes betrifft. Der Simon ist mit Sicherheit der beste Metzgermeister im ganzen Landkreis, vielleicht sogar weit darüber hinaus, doch ihn auf die geschätzten Kunden loszulassen, das ist schon ein heikles Unterfangen, das die Gisela deshalb auch tunlichst vermied, wann immer es möglich war. Handwerklich verdiente Simon zweifellos die Note Eins mit Stern, mundwerklich dagegen rangierte er eher bei mangelhaft bis ungenügend. Es ist nicht etwa so, dass er bewusst unfreundlich gewesen wäre. Oh nein, das ist nicht das Problem. Freundlich ist er schon, halt auf seine eigene Art und Weise, eher tief im Inneren und nach außen hin nicht gleich sichtbar. Für Giselas geniale Art von Verkaufsgesprächen, bei denen sie gerne einmal die eine oder andere Neuigkeit einfließen ließ, so brühwarm wie die Wienerle und die etwas würzigeren Regensburger aus der Bräunleinschen Wursttheke, dafür hatte der Simon so gar kein rechtes Talent. Wenn er nur nicht wieder eine der sensiblen, aber kaufkräftigen Kundinnen vergraulen würde, so hoffte die Gisela inständig. Er erklärte halt gar zu gern den gemäß seiner Empfindung krachdürren, schwindsüchtigen Kundinnen und dazu zählten in seinen Augen alle, die ohne ein ausreichendes Maß an gesundem Übergewicht durch das Leben vegetierten, was eine ordentliche Portion ist. Man konnte nur hoffen, dass er sich wenigstens heute mit seinen zwar gut gemeinten, aber völlig unangebrachten Ratschlägen zurückhalten würde. Gisela hatte leider keine andere Wahl. Der Einkaufsbummel in die Großstadt war dringend nötig und alternativlos, wie die Bundeskanzlerin es so gerne formuliert, wenn sie keinen Widerspruch zulassen will. Im Falle der Bräunleinschen Regierungschefin traf diese drastische Einstufung allerdings tatsächlich zu.
Wie lange hatte die gute Maria jetzt eigentlich schon darauf hingearbeitet? Manche glauben, der Plan stand schon von der Minute an fest, da sie sich, damals in Kairo, in den Bus zu Lothar gesetzt hatte. Andere, naivere Beobachter, glaubten an eine Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit. Wie auch immer! Nun endlich würde in weniger als zwei Wochen die von den Freunden schon lange als überfällig betrachtete Hochzeit von Maria Cäcilia Leimer, Inhaberin des örtlichen Kosmetikstudios, mit ihrem Lothar stattfinden, seines Zeichens Besitzer des alteingesessenen Friseursalons Schwarm. Genau genommen handelte es sich dabei längst um ein und denselben Verschönerungstempel, denn nachdem sich die beiden auf der erwähnten abenteuerlichen Ägyptenreise kennen und lieben gelernt hatten, war die ungebundene Maria kurzerhand aus Schöikiach in der Oberpfalz zu ihrem Lothar nach Röthenbach gezogen und beide hatten in der Folge ihre geschäftlichen Aktivitäten, die sich allein schon fachlich so gut ergänzten, aus praktischen Gründen zusammengelegt.
Der heutige Einkaufsbummel der beiden Damen galt natürlich der Vorbereitung auf dieses mit Spannung erwartete Großereignisses. Ein passendes Geschenk musste ausgesucht werden. Eine Aufgabe, für deren Bewältigung man weder die jeweiligen Ehemänner noch deren unqualifizierte Ratschläge benötigte. Und dann musste man sich auch nach der richtigen, dem Anlass angemessen modischen und vor allem repräsentativen Garderobe umsehen. Vor allem hinsichtlich der finanziellen Aspekte, die es hierbei zu beachten galt, wären die vorwiegend knausrigen Herren der Schöpfung allerdings sogar eindeutig im Wege gewesen, denn Gisela ist schließlich nicht umsonst eine gelernte Fleischereifachverkäuferin durch und durch, so dass in allen Lebenslagen ihr ungeschriebenes, aber ebenso unumstößliches Credo lautet: „Derfs a bissler mehr sei?“ Nein, nein, die Männer sollten nur zuhause bleiben. Deren Auftritt würde schon noch bald genug kommen. Ein anderes Mal. Die würden doch nicht tatsächlich glauben, dass sie mit ihren in die Jahre gekommenen kombinierten Hochzeits- und Beerdigungsanzügen durchkommen würden. Nicht bei dem wichtigsten gesellschaftlichen Ereignis der letzten zehn Jahre in Röthenbach. Ganz sicher nicht!
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