Hier wollte sie alt werden, das war überschaubar und grün, das kostete im Betrieb fast gar nichts und heizen würde sie mit einem Werkstattofen mit Gaskartuschen. Außerdem gab es die Vereinsbadewiese, zu der auch sie einen Schlüssel überreicht, bekam. Dort konnte sie sich auf die Bank am Ufer setzen und den Sonnenuntergang über dem breiten Fluss genießen, so oft sie wollte, während die bedauernswerten Innenstädter dafür eine halbe Stunde S-Bahn fahren mussten, um sich dann alle auf demselben Fleck zu drängeln.
Als sie ihre Laube bezog, die kaum größer als ein Wohnwagen war, warf sie ihren letzten Lippenstift weg und alle Spitzenunterhöschen, behielt lediglich die bequeme Baumwollunterwäsche. Handwerklich war sie nicht sonderlich begabt, ließ einfach alles, wie es war, strich nur die Wände innen weiß, riss das zerfledderte Linoleum heraus, verlegte neues, das sie ungeschickt zuschnitt, rollte einen dicken Teppich aus. Trotzdem hatte sie im Winter entsetzlich kalte Füße, Mimi diente dann nicht zuletzt als Bio-Wärmflasche.
Um nicht in der Enge der Vereinswege zu ersticken, packte sie das Hündchen mindestens einmal wöchentlich in eine Tragetasche, bestieg im Sommer ihr grasgrünes, rostiges Rad, ließ sich auf dem breiten, roten Sattelbezug mit den weißen Fliegenpilzpunkten nieder und radelte den Kilometer zur S-Bahnstation. Diese lag an einer vielbefahrenen Ausfallstraße, und es war jedes Mal ein Schock für Bewohner des Land der Sonne, wenn sie aus ihrem stillen, wasserreichen, grünen Paradies kamen, und dann bei Rot an dieser Ampelkreuzung standen, an welcher der Großstadtverkehr lärmend vorbeizischte, in den sie auch gleich eintauchen würden.
Carola wanderte durch Museen und über Flohmärkte, trank Jasmintee in einem Straßencafé, ließ Mimi auf einem Grünstreifen ihr Geschäft verrichten, und hatte keine Ahnung davon, dass sie ununterbrochen ihren Gedankenstrom auf ihren Kleinsthund niederredete. ¨Jetzt aber schnell über die Ampel, nachher noch Milch kaufen, dieses abartige Plakat da, bist Du auch so durstig wie ich.¨ Mit anderen Menschen redete sie nicht, und das war umso erstaunlicher, als Hundehalter einander häufig grüßten und zwanglos ins Gespräch kamen, gleichgültig, ob die Hunde sich mochten oder einander mit gesträubter Bürste auf dem Rücken auswichen. Carola fühlte sich angenehm unsichtbar, und das war sie auch, denn niemand schaute sich nach einer Frau mittleren Alters um, die so ungepflegt verwelkte.
Es war ausgerechnet Werner, der die flüssig-orangefarbene Hundescheiße übersah, die vor dem Flaschencontainer in der Sonne trocknete. Er trat so unglücklich mit dem Vorderfuß hinein, dass die stinkende Schmiere sich über die Sandalensohle zwischen seine Zehen quetschte. Er fluchte. Während er zurück zu seiner Parzelle hinkte, um Fuß und Sandale zu reinigen, schwor er, sich diese Carola Birkenhuhn noch einmal vorzuknöpfen. Kein anderer Hund als ihr Spielzeugviech konnte das gewesen sein.
Er war auf dem Weg zu Parzelle 32, wo die neuen Besitzer schon auf ihn warteten, damit er ihnen die Vereinsmitgliedschaft erklärte, Pflichten und Rechte aufzeigte und die hundert Jahre alte Satzung überreichte, die zwar in wenigen Bereichen modifiziert worden war, im Wesentlichen jedoch unverändert galt und sämtliche Eventualitäten, die im engen Zusammenleben in einer Kleingartenkolonie auftreten konnten, klug vorausgesehen und geregelt hatte.
Über die neuen Vereinsmitglieder freute er sich. Es waren intelligente Leute, er Ingenieur mit einem Patent, das ihm offenbar zu Wohlstand verholfen hatte, sie Lektorin, die viel zuhause arbeitete. Mit ihren etwa fünfzig Jahren senkten sie den Altersdurchschnitt im Verein deutlich. Vielleicht waren sie sogar zu ehrenamtlicher Mitarbeit zu gewinnen, denn nur ein Bruchteil der Mitglieder engagierte sich. Den meisten war der Verein egal, solange Strom floss, das Pumpensystem funktionierte, und niemand auf ihrem Parkplatz stand.
¨Wir sind ja so glücklich!¨ hauchte Violetta. Sie trug ein weißes Spitzenkleid, drängte sich an ihren Mann: ¨Nicht wahr, Alexander, Liebster?¨
¨Es ist wie Urlaub hier¨, bestätigte dieser trocken und musterte derweil den Vereinsvorsitzenden, dessen schleichender Gang ihn misstrauisch machte. Es würde mit der Übergabe doch alles in Ordnung gehen? Die Kaufsumme lag noch beim Notar auf einem Anderkonto und würde erst an den Vorbesitzer ausbezahlt, wenn die Vereinsangelegenheiten geregelt waren.
Werner war „von Amts wegen“ geübt in solchen Gesprächen, strahlte trotz seiner windschiefen Dürre Beständigkeit aus, und so schüttelten sie einander nach einer halben Stunde und zwei Unterschriften die Hände, der Vorsitzende wünschte viel Glück, und die beiden Neulinge würden gleich am eigenen Ufer stehen, in die Ferne schauen und langsam begreifen, dass sie das von nun an immer tun konnten, ganz allein, nur sie beide, oder an Sommerabenden mit Freunden aus der kochenden Stadt.
Das weiße Spitzenkleid allerdings würde Violetta auf diesem Gelände nie wieder tragen, zu viele Umbauarbeiten, zu viel Gartenarbeit. Zudem würde auch sie von nun an täglich ihre Schubkarre vom Parkplatz zu Parzelle und wieder zurückschieben, beladen mit Getränkekisten oder Rasenschnitt. Das ging in Jeans und Gummilatschen besser. Und weil hier eigentlich niemand hohe Schuhe trug, man viel behaartes Bein sah und reichlich ausgebeulte Sweatshirthosen, würde Violetta es eines Tages sogar aufgeben, darauf zu achten, dass ihr T-Shirt und ihre Ohrringe zueinanderpassten. So etwas interessierte hier nicht einmal die Frauen.
In Zukunft würde das Paar frühestens Anfang Oktober wieder, wenn die Nächte zu lang, kühl und zu feucht wurden, um draußen auf der Terrasse zu leben, in die Stadt zurückkehren, und aus Violetta würde erst im Winterhalbjahr wieder eine Dame werden, die im Etuikleid und mit lackierten Fingernägeln ein Symphoniekonzert besuchte.
Auf dem Rückweg von seinen Amtsgeschäften spürte Werner wieder die nasse Ledersandale an seinem Fuß und entschloss sich, einen Umweg durch den Barschweg zu machen, und dieses Fräulein Birkenhuhn zur Rede zu stellen. Kaum, dass er vor dem rostigen Gartentor stand, dessen zerfallenes Schloss ein Kind hätte aufbrechen können, ertönte hinter dem braunen Plastiksichtschutz das grelle Kläffen des Chihuahuas.
„Frau Birkenhuhn?“, versuchte sich Werner gegen die Geräuschkulisse durchzusetzen.
Carola konnte angesichts der lärmenden Mimi schlecht vorgeben, sie sei nicht zu Hause. Während sie umständlich nach dem Gartentorschlüssel kramte, schlug das Hündchen bellend einen Salto nach dem anderen.
Aus drei Richtungen riefen Nachbarn, die man durch die Büsche nicht sehen konnte, einstimmig: „Entweder, er hört auf, oder er landet auf dem Grill!“. Es klang, als hätten sie dies lange geübt, und das hatten sie wohl auch.
Carola beeilte sich deswegen nicht, schlurfte die wenigen Schritte zum Gartentor, scheuchte das Hündchen zur Seite, fummelte den Schlüssel ins Schloss, öffnete einen Spalt, sah Werner trotzig an: „Ja?“
Werner hasste solche Konfrontationen, zumal er sicher wusste, dass sie in diesem Fall nichts brachten.
„Ich bin in Ihre Kacke getreten, also die von Ihrem Hund. Ich hatte Sandalen an…!“
Mimi war inzwischen zurück auf ihr Kissen geklettert, behielt aber den Feind mit gebleckten Zähnen im Blick.
„Das war nicht mein Hund!“ , antwortete Carola und schüttelte ihr Haar vor das Gesicht.
„Wir können noch andere Maßnahmen einleiten!“ Werner sprach lauter, als es seine Art war, aus persönlicher Betroffenheit, und weil ihn diese unverschämte Lüge außerordentlich aufbrachte.
Hinter verschiedenen Hecken hörten verschiedene Nachbarn alles mit und hofften inständig, dass nun endlich durchgegriffen wurde.
„Ja, ja“, fiel Carola dem Vereinsvorsitzenden ins Wort, und schob die Gartenpforte wieder zu.
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