Gabriele Bärtels
Häuschen mit Garten
Erzählung
Berlin, 2021, Gabriele Bärtels
Umschlaggestaltung: Gabriele Bärtels
gabriele-baertels.de
Alle Rechte vorbehalten.
1
2.
3.
4.
5.
6.
7.
1.
Leonie unterdrückte einen Fluch, als sie mit dem Ellenbogen gegen die Kühlschranktür stieß. Wieder ein blauer Fleck. Sie hasste diese entsetzlich enge, fensterlose Küche, in der ihre Füße geradeso neben den Abfalleimer passten. Sie verabscheute dieses ganze, heruntergekommene Appartement. Ihr entfuhr nur deshalb kein Laut, weil sonst Tao aufgeschreckt wäre.
Der Hund schlief auf seinem Kissen, und es war schlimm genug, dass sie ständig neben seinen Kopf treten musste, um an ihm vorbeizukommen. Doch nachdem der Ex, dessen Namen sie nicht mehr aussprach, weil sie sich sonst übergeben musste, Leonie aus dem gemeinsam gebauten Haus gejagt hatte, war ihr keine andere Wahl geblieben, als mit dem Hund in dieses winzige, verkommene Appartement zu flüchten.
Sie konnte froh sein, es überhaupt ergattert zu haben, denn in der ganzen Stadt gab es keine bezahlbaren Wohnungen mehr, schon gar nicht für eine Sechzigjährige ohne geregeltes Einkommen, dafür mit einem großen Hund und dem dringenden Wunsch nach einem Garten.
Der Ex hatte Leonie nicht nur um ihren Anteil am Haus betrogen, sondern auch jedes andere Versprechen gebrochen. Als der Bau abgeschlossen war, hatten sie den Jagdhund angeschafft. Der Welpe sollte bei ihnen ein Zuhause für immer finden. Taos Jugend hatte darin bestanden, im Garten zu spielen und „Bei Fuß“ zu üben, sich auf dem Rasen zu wälzen, in der Sonne zu braten, auf Eichhörnchen zu lauern und den Paketboten anzubellen. Dann kam die Räumungsklage und der überhastete Umzug.
Hier im ersten Stock dieses verkommenden Betonbaus konnte der Hund nichts mehr von dem tun, was er für selbstverständlich gehalten hatte. Leonies neues Wohnzimmer war knapp zehn Quadratmeter groß und mit Möbel vollgestellt. Anfangs hatte sie noch versucht, auf dem Teppich mit Tao zu raufen, doch er war ständig mit dem Schwanz gegen einen Schrank geschlagen. Aus dem Fenster gucken konnte er auch nicht mehr. Er hätte nichts anderes gesehen als einen betonierten Parkplatz.
Eingeschlossen in eine Box aus Wänden gewöhnte sich das schlanke, muskulöse Tier an, fünfzehn Stunden am Stück komatös zu schlafen. Leonie sah es jeden Tag mit Schmerzen. Sie hätte alles getan, um ihrem Hund sein Leben zurückzugeben, aber es stand nicht in ihrer Macht. Umso wichtiger war es, dass sie am Stadtrand wohnen blieben, damit sie schnell mit Tao auf die umliegenden Felder kam, ohne ins Auto steigen zu müssen. Er brauchte doch mindestens zwei Stunden Auslauf pro Tag, und jetzt noch viel mehr.
Außerdem sollte der Hund nicht auch noch seine vertraute Umgebung verlieren, die auch ohne den Ex Leonies Heimat geworden war. Der stille Stadtteil zog sich an einem Flussufer entlang, bestand aus Einfamilienhäusern, Kleingartensiedlungen, Ruderclubs und Yachthäfen. Vom Lärm der sechsspurigen Magistrale, die einen Kilometer weiter die Berufspendler in die City und wieder hinausbrachte, war hier nur fernes Rauschen zu hören. Viel präsenter waren im Wind flatternde Segel, Megafon-verstärkte Kommandos der Ruderer-Trainer, die über das Wasser hallten, Möwenschreie und Vogelgezwitscher.
Leonie hatte Tao frühzeitig das Schwimmen beigebracht. Im Sommer, wenn es zu heiß für lange Ausflüge war, apportierte er begeistert Spielzeug aus dem kilometerbreiten Fluss. Jetzt musste sie mit dem Hund ein gutes Stück durch die glühende Sonne laufen, um ans Ufer zu gelangen. Die Betonwände ihres Appartements heizten sich derart auf, dass der Hund im letzten Sommer im Hausflur geschlafen hatte.
Nicht nur für Tao litt Leonie. Noch nach einem Jahr wusste sie genau, wo in ihrem Garten welche Stauden standen, wann sie aufblühen würden, und an welcher Stelle der Giersch der Nachbarin durchkam, den sie hartnäckig bekämpft hatte. Sie fragte sich, wie sich der Ahorn machte, den sie neben den Teich gesetzt hatte, in der Hoffnung, er werde im Herbst feuerrote Blätter zeigen. Sie würde nicht beobachten, wie die Kaulquappen durch das Teichwasser zuckten. Niemand würde den Nistkasten an der Eiche leeren, in den jedes Jahr ein Kohlmeisenpaar eingezogen war.
Es war April. Ihre Sternmagnolie blühte jetzt üppig, am Teichufer kamen die Traubenhyazinthen heraus und auf dem Beet neben dem Schuppen schwankten Narzissen. Sie hatte es genau vor Augen, doch sie würde es nie mehr sehen, geschweige denn anfassen, dazwischen Unkraut jäten oder Efeu zurückschneiden.
Ihren guten Spaten, den Rechen, die Gartenschere und einige andere Geräte hatte sie beim Auszug mitgenommen. Sie standen jetzt in einer Ecke des Balkons, abgedeckt mit einer Plane. Nicht einmal den Karton mit Rasensamen wollte sie ihrem Ex lassen, obwohl Rasensamen hier keinen Sinn hatte.
Als hätte sie eine Gasflamme angezündet, schoss wieder die flammende Angst hoch. Die meisten Leute in Leonies Alter ernteten mittlerweile das, was sie in ihrem bisherigen Dasein gesät hatten. Die einen lebten in ihrer Eigentumswohnung, die anderen reisten viel, die dritten würden bald eine ordentliche Rente genießen. Nur Leonie schaukelte weiter auf einem löchrigen Floß, ohne Aussicht, jemals ein ruhiges Ufer zu erreichen. Das, was sie dafür gehalten hatte, war bloß ein Trugbild gewesen, gewebt aus ihren innigsten Wünschen. Nichts war davon übriggeblieben als der Hund und zehn vergeudete Jahre.
Leonie erhob sich langsam von ihrem Schreibtischstuhl. Lieber wäre sie aufgesprungen, aber Tao zuckte im Tiefschlaf direkt neben ihr.
Der Schreibtisch war der einzige Platz, an dem Leonie sich tagsüber aufhalten konnte. Das harte, schmale Sofa kam nicht in Frage, und mehr Raum für irgendwelche Aktivitäten gab es nicht. Sie, die noch jede Wohnung ihres Lebens in einen gemütlichen, sauberen Ort verwandelt hatte, hatte nach dem Einzug kein Bild aufgehängt. Sie ignorierte die Spinnweben, das stinkige Bad, in dem kleine Fliegen klebten, und war nie mehr im Gartenmarkt gewesen, denn Blumen für den armseligen Balkon zu kaufen, brachte sie nicht über sich.
In ihrer Küche konnte Leonie nicht kochen, denn es gab keinen Backofen, nur eine aufstellbare Kochplatte, welche die komplette Arbeitsfläche belegte. Das schwere Gerät musste sie unter Verrenkungen aus dem Unterschrank zerren, wie auch Kochtopf und Gewürze, während ihr Dosen und Tüten entgegenfielen. Leonie kochte nicht mehr. Sie heizte Fertigessen in der Mikrowelle auf. Es schmeckte widerlich, war zu fettig und zu salzig. Im Supermarkt ging sie am frischen Rosenkohl und den Lauchstangen vorbei.
Jeden Morgen, wenn sie die Augen aufschlug, wollte sie nur raus hier, und wusste zugleich, dass sie keine Chance hatte, jemals ein Häuschen mit Garten zu ergattern, erst recht nicht nah am Wasser.
Als Schriftstellerin hatte sie nie Erfolg gehabt und würde aller Vernunft nach auch keinen mehr haben, so sehr sie für ihre Arbeit auch glühte. Täglich suchte sie das Internet nach Möglichkeiten ab, zusätzliches Geld als Texter zu verdienen, und wusste sehr genau, dass ihr Einkommen auf den letzten Metern zur Rente immer nur gerade bis zum Monatsende reichen würde. An das Danach verbot sie sich streng zu denken.
Leonie drehte sich nach Tao um. Seine langen Beine hatte er zusammengeklappt, lag auf der Seite, die Augen fest verschlossen, das Maul faltig und lose.
Früher waren sie spätestens um Acht zu einer langen Tour aufgebrochen, doch jetzt zog sie fünfmal geräuschvoll ihre Stiefel an, rief „Tao!“, und steckte demonstrativ die Leine in die Tasche. Vergeblich - der Hund hob nur kurz den Kopf und drückte ihn dann umso fester auf das Kissen, seine braunen Augen waren ein Delirium.
Meistens zog Leonie ihre Stiefel dann wieder aus, dabei sehnte sie sich so nach Grün, Weite und frischer Luft. Aber sie konnte nicht stundenlang ihren Hund alleine lassen, wollte ihn auch nicht mit Gewalt aus dem Tiefschlaf zwingen, so sprang sie nur schnell ins Auto, um Brötchen zu besorgen und hörte draußen schon die Amseln in den hellgrünen Bäumen singen. Darüber stand ein kühler, tiefblauer Himmel.
Читать дальше