Verschüttet
Geschichten über Einsamkeit
Gabriele Bärtels
Berlin, 2021 © 2021 Gabriele Bärtels
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Der Verbrecher
Amoklauf
Vögelchen
Verschüttet
Alles wie immer
Der erste Fremde
Der Ohrring
Dessous
Hotel Seehof
Schilder
Venezianischer Karneval
Kronzeugen
Das Schiff
Hass
Insekten
Maßstabsgetreu
Nebelkrähen
Sonnengott
ÜBER Die AUTORin
Der Verbrecher
An einem kalten Wintertag um sieben Uhr früh trat der Verbrecher ins halbdunkle Treppenhaus und musterte die Briefkästen. Einige waren leer, aus anderen wucherten Werbezettel. Auf der Erde lagen ausgetretene Kippen und der Fußabtreter vor der ersten Stufe bestand nur noch aus einem Gerippe von Seilen. Der Verbrecher stieg die Treppe hoch. Vorbei an einer Tür, aus der Posaunenklänge drangen, vorbei an Namensschildchen aus Emaille und Ton, vorbei an Gummistiefeln und leeren Flaschen. Er atmete etwas schneller, als er im fünften Stock angekommen war.
Vor der rechten Tür blieb er stehen. Auf der Glasscheibe befand sich ein Aufkleber. Hier wache ich , stand unter der Zeichnung eines schwarzen Hundekopfes. Der Verbrecher zog eine Sprühdose aus seiner Jackentasche. Bevor er klingeln konnte, schlug der Hund an.
Aus einem entlegenen Zimmer der Wohnung rief eine alte Frauenstimme: "„Bajazzo!“ Der Hund bellte weiter. „Ich komme,“ rief die Frau.
Der Verbrecher trat einen Schritt zurück und wartete. Das wütende Kläffen füllte das stille Treppenhaus mit kurzen, keuchenden, hallenden Lauten.
Endlich drehte sich ein Schlüssel im Schloss und die Tür ging einen Spalt auf. Dazwischen drängelte sich der bärtige Kopf eines lackschwarzen Riesenschnauzers. Aus dem dunklen Rosé seiner Maulhöhle leuchteten weiße Zähne. Er knurrte.
Der Verbrecher richtete die Sprühdose auf den geifernden, hochspringenden Hund. Ein dichter, feiner Nebel entwich und legte sich dem Hund um den Kopf, so dass dieser augenblicklich zu jaulen anfing, eine Pfote hob und versuchte, sich die Augen auszuwischen. Als ihm das nicht gelang, warf er sich auf den Teppich, wälzte sich hin und her und rieb seinen Kopf an der Wolle. Der Verbrecher stellte einen Fuß in die Tür. Sie schwang langsam auf.
Er schaute auf das Tier hinab. Neben seinem sich windenden Körper standen die zwei nackten, krummen Füße einer alten Frau. Die Nägel ihrer großen Zehen waren braun und krümmten sich wie Echsenrücken.
„Sie sollten zur Fußpflege gehen,“ sagte der Verbrecher und trat ein. Er schob die Frau zur Seite und warf die Tür hinter sich ins Schloss.
Die Frau fiel neben dem Hund auf die Knie: „Bajazzo, Bajazzo!“, stotterte sie.
Der Hund hörte sie nicht. Er hechelte und schüttelte den Kopf, als habe er einen Fliegenschwarm im Ohr. Der Blick der Frau glitt von den Hosenbeinen des Verbrechers hoch in sein Gesicht.
Sie fragte mit einer anderen, tiefen Stimme: „Was wollen Sie?“
Er lehnte sich gegen die Tür, zog eine Zigarette aus der Tasche, fummelte das Feuerzeug heraus, zündete sie an und zog ihren Rauch tief in seine Lungen. Das tat er zweimal, sein Gesicht beruhigte sich, er lächelte fast, als er die Asche auf den Teppich fallen ließ.
„Ich will Geld.“
Noch immer schaute er auf ihre Füße. Die alte Frau erhob sich mühsam. Sie zeigte mit einem krummen Finger auf ihn.
„Sie sind ein Verbrecher“, sagte sie zur fallenden Asche und machte einen Schritt vor. Mit der rechten Fußsohle zerrieb sie das graue Röllchen in den Teppich. Eine schwarze Spur blieb übrig. Der Verbrecher ließ die Zigarette danebenfallen und trat sie aus.
Die alte Frau trug einen Morgenmantel, dessen Kragen sie nun hochschlug. Sie musste über siebzig sein, aber ihr Rücken war ungebeugt.
Warmes Licht leuchtete den quadratischen Flur aus, von dem vier Türen in Küche, Bad und zwei Zimmer führten. Sie standen alle offen, in der Küche keuchte eine Kaffeemaschine, im Wohnzimmer dudelte leise ein Radiosender, das Doppelbett im Schlafzimmer war zerwühlt und auf der unbenutzten Seite lag eine rotkarierte Hundedecke. Im Badezimmer hing ein feuchtes Handtuch über der Heizung. Es roch nach Duschbad, Kaffee und nach einer Nacht voller tiefer Atemzüge.
Der Hund hatte sich winselnd unter dem Bett verkrochen. Die Frau drehte dem Verbrecher den Rücken zu und ließ ihn stehen. Im Bad griff sie nach dem Handtuch, ließ Wasser darüber laufen und ging quer über den Flur ins Schlafzimmer, als wäre das Brandloch nicht im Teppich, als lehne der Verbrecher nicht an der Wand, als hätte es nie geklingelt. Sie brachte den Hund mit einer Mischung aus rauen Befehlen und zärtlichen Lockungen unter dem Bett hervor, hielt seinen Hals im Klammergriff und wischte ihm mit dem Handtuch die Augen aus.
Der Verbrecher stand noch immer im Flur und musterte die Wände. Neben ihm hing ein Bild mit einer Dünenlandschaft, über der die Sonne auf- oder unterging. Er hob das Bild mit dem Finger zwei Zentimeter an, und als der Haken sich von der Wand gelöst hatte, zog er seinen Finger weg. Das Bild fiel krachend herunter und der Rahmen zerbrach. Die Frau hob kaum den Kopf.
Der Verbrecher trat auf die noch heile Glasscheibe, es splitterte. Das Bild darunter wurde zerrissen und zerknickt.
„Sie sollten Schuhe anziehen,“ sagte er zu der Frau, die dem Hund noch einmal beruhigend auf den Hals geklopft hatte. Sie erhob sich vom Bettrand.
„Möchten Sie Kaffee?“, fragte sie. „Ich mache jeden Morgen zu viel.“
Der Verbrecher antwortete lange nicht. Schließlich sagte er: „Ich trinke nur Tee.“
„Ich kann auch Tee kochen.“ Sie hob ein paar Kleidungsstücke von einem Stuhl. „Sie werden nichts dagegen haben, dass ich mir etwas anziehe,“ stellte sie fest, machte einen Bogen um die Scherben am Boden und schloss die Tür des Badezimmers hinter sich.
Der Verbrecher zog seine Jacke aus und hängte sie auf einen Haken an der Garderobe.
„So bunt!“, sagte er und strich über rote, grüne, blaue und gelbe Jackenärmel.
Der Hund schaute unter dem Bettrand hervor. Mit wenigen Schritten war der Verbrecher im Schlafzimmer und trat nach der bärtigen, schwarzen Schnauze.
„Verpiss Dich, Töle,“ sagte er laut.
Er ließ sich auf das Bett fallen und legte sich mit über dem Kopf verschränkten Armen nach hinten. Etwas juckte ihn am Kinn, er fuhr darüber und fand ein weißes Haar zwischen den Fingern. Er schüttelte es schnell ab und verzog das Gesicht.
Die Wände des Schlafzimmers waren vertäfelt. Dazwischen standen Schränke aus dem gleichen, dunklen Holz. Der Verbrecher zog eine Schublade auf und kippte ihren Inhalt auf den Boden. Taschentücher, Postkarten, Wäscheknöpfe und ein Buch fielen auf die Erde. Aus einer zweiten Schublade kullerten weiße Socken wie Wollknäuel.
Der Verbrecher griff nach einem und zog es auseinander.
„Die passen mir,“ sagte er und streifte seine Schuhe ab.
Die Strümpfe, die darunter zum Vorschein kamen, waren an Ballen und Fersen so dünn, dass die Hornhaut durchschimmerte.
„Und feucht sind sie auch noch,“ sagte der Verbrecher, zog sie aus und warf sie hinter sich.
Nachdem er die frischen Socken angezogen hatte, schob er die Schuhe nebeneinander unter den Rand des Bettes und stand auf. Er öffnete alle Schränke, riss alles heraus, warf alles auf den Boden.
Er bemerkte nicht, dass die alte Frau schon eine Weile im Türrahmen stand und ihn beobachtete. Der Haufen ihres Eigentums wurde immer höher, und die einzelnen Teile waren immer schwerer auseinanderzuhalten. Da krümmten sich Drahtbügel um Hosenbeine und Rüschenkragen. Spitzenträger ringelten sich um Kabel von Bügeleisen, Frotteeberge türmten sich, von Laken durchzogen, Gürtel schlängelten sich zwischen Knopfdosen und klickten mit ihren Verschlüssen aneinander. Glasketten blitzten zwischen rotem Stickgarn, und Bücher blätterten sich auf wie Seerosen am Morgen.
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