Es fiel ihm schwer, zurückzutreten. Er umklammerte seine Tasche, überquerte die Straße, die sich um den Platz zog. Nicht weit entfernt vom Brunnen stand ein Denkmal, drei einander zugewandte Spiegel, in deren Mitte man treten konnte. Er tat es, als wäre er ein Tourist. Die Inschriften zu seinen Füßen las er nicht, starrte sich ins Spiegelgesicht und auf den haarumkränzten, kahlen Hinterkopf, selbst seinen leicht gekrümmten Rücken konnte er ganz überblicken. Er richtete sich auf, um groß genug für sie zu sein.
Es wurde langsam dunkel, und das Licht der Straßenlaternen schaltete sich mit leisem Knacken an. In einem Baum am Bürgersteig saß eine reglose Taube. In ihrem Haus war kein Fenster erleuchtet.
Eilige Männerschritte näherten sich und echoten an den Hauswänden. Winfred zog sich zwischen die Spiegel zurück. Im Laufen griff der Mann in seine Hosentasche, es klirrte, als er einen Schlüsselbund herausfummelte. Er hielt direkt auf ihr Haus zu. Winfred vor das Denkmal und steuerte in die gleiche Richtung. Als er den Mann erreichte, schloss dieser gerade auf.
„Das trifft sich gut“, sagte Winfred in seinen Rücken.
Der Mann drehte sich ruckartig um, seine Absätze scharrten dabei.
„Bitte?“, fragte er von oben herab, als habe Winfred ihn angebettelt.
Winfred packte seine Tasche fester und sagte mit einem Seitenblick auf das Klingelschild: „Ich bin mit Wagners verabredet, sie sind wohl noch nicht da. Ich würde lieber drin warten.“
Der Mann ließ Winfred den Vortritt, ging geradewegs in den Hof zum Gartenhaus, während Winfred den Aufzug ansteuerte, dann aber doch die Treppe wählte, die mit einem roten Teppich überzogen war.
Er musste sich am Geländer festhalten, so ergriffen war er. Er stieg langsam empor, bis er die oberste Etage erreichte. Nur ihr Nachname stand auf dem glänzenden Emailschild an der Tür. Der Fußabtreter war nagelneu. Winfred bückte sich und schob vorsichtig den Briefkastenschlitz auf. Er sah nichts, ahnte nur Parkettfußboden, aber er roch sie zum ersten Mal. Aus dem Schlitz strömte Fliederduft. Winfred berauschte sich daran.
Er zog die Videos und den Aktenordner mit seinen Briefen heraus, stapelte sie sorgsam auf ihrer Türschwelle, so dass sie alles sofort entdecken würde, gleich, ob sie vom Aufzug kam oder über die Treppe. Er keuchte. Ihre Nähe brachte ihn fast um. Er spürte, wie sehr er sie liebte.
„Komm, Vögelchen, komm“, sang er leise und war sich dessen wieder nicht bewusst.
Im Haus blieb es still.
Er hatte gehen wollen, doch er konnte nicht. Die Treppe führte noch höher zum Dachboden. Er stieg die Stufen hoch und setzte sich auf den Absatz, sah von hier nur noch die oberen Ecken ihrer Wohnungstür. Das Licht erlosch. Winfred streckte seine Beine aus, rutschte nach hinten, lehnte sich gegen die Wand, verschränkte die Arme, schloss die Augen.
Das Licht ging wieder an und ihm kam es vor, als habe man ihm die Decke weggezogen. Er hörte den Aufzug nach unten sausen, er hielt, ächzte, fuhr wieder hoch. Im vierten Stock stiegen die Wagners aus. An ihren Stimmen erkannte er, dass es alte Leute waren. „Wo hast Du den Schlüssel?“, herrschte die Frau den Mann an. Die Tür schlug zu und Ketten rasselten.
Sie kam erst gegen Morgen.
Als die Aufzugtür sich öffnete, schreckte Winfred zusammen. Etwas schlug gegen die Metallwände, er hörte ein Keuchen, Fluchen, Stolpern. Das Flurlicht klackte.
„Was ist das hier für eine Scheiße?“, krächzte eine lallende Stimme, das konnte sie unmöglich sein. Im selben Augenblick erreichte ihr Fliederparfüm seine Nase. Es polterte. Winfred drückte seinen Rücken gegen die Wand. Er war ihr Schutzengel. Er lächelte selig.
Sie schlug die Wohnungstür hinter sich zu. Er schlich die Stufen herunter und stieß mit dem Fuß an eine Videokassette. Daneben rutschten seine Briefe aus dem schiefen Aktenordner. Sie hatte achtlos darauf herumgetrampelt. Das konnte nur ein Irrtum sein.
Winfred bemühte sich, das Hecheln zu unterdrücken, das in seiner Kehle saß. Sein Vögelchen lebte hinter dieser Tür. Auf Knien rutschte er näher heran, führte seinen zitternden Zeigefinger an den Briefkastenschlitz, hob ihn millimeterweise hoch. Wieder dieser betörende Duft. Er erkannte einen Streifen Parkettboden und hörte, dass sie telefonierte. So spät in der Nacht, so früh am Morgen, wie Vögelchen es eben tun. Er lächelte verständnisvoll, er war ja beinahe ihr Bruder.
Während des Telefonates lief sie umher, der Boden knarrte bei jedem Schritt. Sie stritt sich mit einer fremden Person, entfernte sich tiefer in die Wohnung hinein, und ihre Stimme wurde dumpf. Es schien Winfred, als ob sie stöhnte. Dann verstummte sie abrupt. Sie trug keine Schuhe mehr, als sie nun in ein anderes Zimmer ging, ihre Füße tappten über das blanke Holz. Einmal meinte Winfred sogar, durch den Schlitz ihre Bewegung gesehen zu haben. Das Licht ging aus. Er hörte das leise Gluckern einer Flüssigkeit, mehr nicht.
Endlich schlief sie, und Winfred lächelte. Leise ließ er den Deckel des Schlitzes sinken. Er würde sie nun wachküssen und von da an jeden Morgen. Soweit der Flur es zuließ, trat er zurück, warf seine ganze Schwere gegen das Letzte, was ihn noch von ihr trennte.
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