Der chinesische Vogelhändler
Märchen und magische Geschichten
Gabriele Bärtels
Berlin, 2021, Gabriele Bärtels
Umschlaggestaltung Gabriele Bärtels
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Auf den Dächern
Ministermärchen
Der chinesische Vogelhändler
Der Schwan, die Nachtigall, die Freiheit und die Liebe
Das Kästchen
Carmelita auf dem Rummelplatz
Der Nachtbriefkasten
Liebesbriefe
Das prächtige Haus
Die menschenverlassene Innenstadt schläft, ihre Fenster sind schwarz, und auf den Dächern, an den Fassaden ihrer klassizistischen Universitätsgebäude, ihrer roten Türme, Renaissance-Kirchen und Museen aus dem 18. Jahrhundert wachen reglose Figuren aus Stein, Alabaster und Bronze.
Der Schein der Straßenlaternen zehn oder zwanzig Meter unter ihnen erreicht sie kaum noch, aber es ist Vollmond und darum glänzen grün angelaufene Rücken von Löwen, die sprungbereit auf einem Vorsprung sitzen, blinken in den Ausbuchtungen der Rathausfassade Speere von seit dreihundert Jahren erstarrter Feldherren auf, steht der dunkle Umriss einer Quadriga auf einem Stadttor, das schon lange keine Grenze mehr markiert, in halber Helligkeit. Ein Laserstrahl, der nächtlich von einem Giebel aus rotiert, huscht über den Himmel und sticht sein Grün in eine Wolke.
Auf der Dachkante des Historischen Museums hocken fünfzehn überlebensgroße graue Adler in genau gleichem Abstand voneinander und schauen scharf auf die Parkanlage herab, in der ein großer Springbrunnen steht, oder eigentlich ruht, denn die Fontäne wird nachts abgestellt. Auf dem Grund des Wassers glitzert ein goldenes Mosaik aus Meerestieren. Eine Reihe Gelehrter, jeder auf einer schmalen Säule, blickt vom Landgerichtsgebäude mit leeren Augen auf eine große Straßenkreuzung, vor der ein paar Autos parken, aber ohne zu verkehren. Dahinter beugt sich eine Brücke über einen Fluss, der am Stadtschloss vorbeiführt. Alles steht still, nur eine Ratte rutscht durch das Bild.
Wer weiß, warum es gerade in dieser Nacht geschah, vielleicht war Ostern oder Silvester, oder es ist überhaupt nicht passiert, aber jedenfalls regte sich der Fächer einer Königin, die über dem Hauptportal des Schlosses auf einem steinernen Thron saß, umgeben von Hofdamen, einem Vogelkäfig und einem Wappen, auf dem eine lateinische Jahreszahl aus lauter Buchstaben neben einer Tulpe stand. Der Wind kann es nicht gewesen sein, der den Fächer der Königin bewegte, denn die Fahne auf dem Dach wehte nicht. Als sie auch noch ihren Fuß vorschob, der beinahe ganz unter ihrem steinernen Rock verborgen war, und ein leises Schlurfen erklang, darauf das Rascheln von Seidenstoff, konnte man nicht mehr von Sinnestäuschung sprechen.
Und gleich darauf breitete der fünfzehnte steinerne Adler ganz rechts auf dem Museum seine Schwingen aus, lockerte sie flatternd, beugte sich leicht nach vorn über den Sims, stieß sich ab, segelte lautlos durch die Nachtluft, schwang sich in ihr empor und landete auf dem Dach des Theaters, auf dessen Ecke ein mit Taubendreck bedeckter Harlekin hockte. Der trug eine Maske vor dem Gesicht, die er jetzt herunternahm, um den riesigen, steinernen Vogel erstaunt zu betrachten, dabei zerriss ein staubiges Spinnennetz, das sich in seiner Armbeuge gebildet hatte.
„Wenn Du schon einmal hier bist“, sagte er in einem altertümlichen Italienisch, „kannst Du mich zu der königlichen Dame dort hinübertragen, die ich schon Jahrhunderte betrachte und täglich schöner finde.“
Der Adler antwortete nicht, er stieß nur einen schreienden Laut aus, der an den Fassaden und Giebeln, Säulen und Vorsprüngen widerhallte. Dann stieg der Harlekin auf seinen Rücken, krallte sich in den grauen Federn fest und flog über den Platz, den Springbrunnen, die Kreuzung, die Brücke hin zum Schloss, hoch auf das Dach, denn auf dem schmalen Sims, auf dem die Königin saß, raschelte und scharrte, konnte der Adler mit dem Harlekin nicht landen.
Beinahe gleichzeitig stießen sich die vierzehn anderen ab und kurvten in verschieden hohen Kreiseln an den Hauswänden hoch über die Dächer, Kuppeln und Türme. Überall, wo ihre Schwingen die Luft aufrührten, begannen sich große und kleine Fassadenfiguren zu bewegen, manche waren nur ein halbes Fabeltier, das den Hals reckte, eine Schlange mit sieben Köpfen, die sich um einen Wanderstab wandt, die Büste eines griechischen Philosophen, dessen Vollbart zitterte. Auf dem Schlossplatz schnaubte ein Reiterstandbild, und ein vierzig Zentimeter hoher, eiserner Jugendstilengel, dessen Flügel das Brückengeländer stützten, trat aus dem Gitter heraus auf das Kopfsteinpflaster, hinterließ seinen Ausschnitt, aber drehte sich nicht danach um. In kleinen Schritten strebte er über die Brücke in den Park, auf den Springbrunnen zu. Seine langen Haare endeten in Wellen.
Der Harlekin legte sich bäuchlings auf das Dach des Schlosses und schaute von dort auf die Königin herab, die sich noch immer kühlende Nachtluft zufächelte. Ihre Hofdamen hatten sich schon herumgedreht und waren die Sandsteinwand herunter geklettert. Dabei hatten sie mit ihren zierlichen Füßchen auf die Köpfe der Vertreter der Zünfte getreten, die eine Etage tiefer ein Band um die Fassade zogen. Einer ließ vor Schmerz seinen Zirkel fallen, der andere senkte seinen Schmiedehammer und lächelte schief. Die Hofdamen entschuldigten sich tuschelnd, rafften ihre Röcke und machten die ersten Schritte auf den Vorplatz, in dessen Mitte das schnaubende Reiterdenkmal stand .Sie liefen noch steif, aber sie kicherten, denn das Pferd war von seinem schwarzen Marmorsockel heruntergesprungen und bockte mit bronzenen Hinterläufen, während der Pickelhelm des Reiters, der ein Kaiser war, hin und her rutschte.
Der Harlekin spitzte die Lippen und pfiff. Die Königin hob ihr Kinn und entdeckte einen Kopf über der Regenrinne, keine zwei Meter entfernt. Der Harlekin sagte: „Schöne Dame, Sie gefallen mir schon eine Weile.“
Die Königin senkte das Kinn wieder und antwortete: „Ich habe Sie noch nie gesehen.“ Sie sprach Französisch, aber das war kein Problem. Dann klappte sie ihren Fächer zu und steckte ihn in ihr Ridikül aus Stein.
Der Harlekin lachte laut, und das Echo tanzte über den Platz. Für einen Augenblick hielten alle Figuren, die sich über Mauervorsprünge und Säulen hoch und herunter tasteten, still und sahen sich nach dem Lachen um. Doch es hatte sich schon in Luft aufgelöst, und so wandten sie sich wieder ab und balancierten die Balustraden entlang. Bald konnte man einen von Autoabgasen schwarz gewordenen Marmordichter, der sich durch ein Buch auswies, auf dem Rand des Springbrunnens neben dem Jugendstilengel sitzen sehen, im Begriff, die Füße ins Wasser zu stecken. Er war aus einem Winkel der Bibliothek herabgestiegen. „Ich wollte schon immer mal baden“, zirpte der Jugendstilengel, „aber nicht im Fluss.“ Er sprang vor den Füßen des Dichters in das Becken, und das Mosaik auf dem Grund wurde unscharf und wellte sich golden.
„Sie lügen“, sagte der Harlekin auf die Königin herab: „Wir stehen uns seit Jahren gegenüber.“
„Davon weiß ich nichts“, antwortete sie und griff mit beiden Händen in ihr hochaufgetürmtes Haar.
„Ich komme herunter“, sagte der Harlekin, und in seiner Stimme war ein dunkles Raunen.
„Unterstehen Sie sich“, sprach scharf die Königin. Sie sah nicht, wie er grinste, als sie die Hände wieder in den Schoß legte.
Ihr Blick ging hinaus auf den Schlossplatz, wo es nun von Figuren wimmelte. Zwei Putten hatten sich des Pferdes bemächtigt, das den kaiserlichen Reiter längst abgeworfen hatte, und jagten es über die Kreuzung. Sie hielten direkt auf einen vor der Ampel parkenden, rostigen Renault zu, in dessen Seitenscheibe ein Schild klebte, dass er zu verkaufen stand, aber der Hengst scheute vor dem Hindernis und stieg und wieherte, bis die Putten ihre kleinen Flügel wie Kolibris rotieren lassen mussten, um wenigstens noch die fetten Händchen am Zügel zu halten. Die Königin lachte.
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