Weil die Stadt klein war, fiel es dem Minister nicht schwer, das Wäldchen zu finden, das der Paradiesvogel als Adresse angegeben hatte. Unerkannt überquerte er die Hauptstraße und stand kurz darauf vor einem gewaltigen Baum, auf dem er hoch oben ein Nest ausmachte. Nun wollte er nicht rufen, um auf sich aufmerksam zu machen, da kam ihm die Melodie wieder in den Sinn. Er spitzte die Lippen und pfiff sie.
Minutenlang rührte sich nichts. Dann fiel ihm ein Zweig vor die Füße, er legte seinen Kopf zurück und entdeckte den schillernd gefiederten Paradiesvogelkopf über den Rand seines Nestes blicken. Obwohl er ihn nur kurz gesehen hatte und dies Monate her war, erkannte er ihn sofort. Was er nun sagen sollte, wusste er nicht, also winkte er nur.
Der Paradiesvogel breitete seine Flügel aus, stieß sich ab und segelte zu Boden. Wie sehr sein Herz klopfte, war durch sein Gefieder nicht zu erkennen. Als er gelandet war, blickte er auf und schaute dem Minister gerade in die Augen. Er las darin eine gewisse Hilflosigkeit, aber auch eine gewisse Wiedersehensfreude. Das gleiche erkannte der Minister in den dunkelschimmernden Augen des Paradiesvogels.
„Wollen wir ein Stück laufen?“, fragten beide gleichzeitig und hatten somit den besten Grund, die Augen abzuwenden, die sonst von einigem gesprochen hätten, dass jeder für sich zu peinlich fand, um es zu offenbaren.
In höflicher Konversation war der Minister geübter als der Paradiesvogel, also machte er den Anfang: „Ein schöner Tag, nicht wahr?“
Der Paradiesvogel nickte und versuchte, das Stück bloße Haut zu verbergen, wo ihm die Federn ausgegangen waren. Der Minister lächelte und versuchte zu verbergen, dass er sich auf einmal federleicht fühlte, als hätte es nie einen Verlust gegeben.
Sie wanderten Seite an Seite durch das Wäldchen, sprachen über das Wetter, die Ernte und die schönen Künste. Es war eine Plauderei ohne Absicht und Ziel. Als sie nach einer großen Runde wieder an dem gewaltigen Baum angekommen waren, sagte der Minister: „Ich dürfte hier gar nicht sein, deswegen muss ich jetzt auch fort.“
„Das müssen Sie wohl“, bestätigte der Paradiesvogel. Viel lieber hätte er bemerkt, dass er sich lange nicht mehr so gut unterhalten hatte. Und dass Männlichkeit mehr Facetten hatte, als der Minister meinte. Und dass man seinem Land auf verschiedene Weisen dienen kann. Und der Minister eindeutig ein Artgenosse war. Doch das alles schien ihm sehr zusammenhanglos und dazu noch aufdringlich.
„Sie sind ein selten schöner Vogel, bleiben Sie, wie Sie sind“, sagte der Minister noch, dann wandte er sich zum Gehen. Er ahnte nicht, dass er mit diesen wenigen Worten den Paradiesvogel davor gerettet hatte, ein Spatz zu werden.
Der Paradiesvogel schwieg, denn er war viel zu bewegt, um etwas zu erwidern. Er schaute dem Minister auch nicht hinterher, den er längst zu seinem Freund ernannt hatte, selbst wenn er ihn nie wiedersehen würde, doch darauf kam es nicht an. Er flatterte hoch in sein Nest und begann zu flöten, ganz neue Töne entrangen sich seiner Kehle, perlten von seinem Schnabel, es waren so viele, dass er damit eine ganze Oper hätte komponieren können. „Das kann ich doch tun!“, sprach er sich zu. Frischer Mut floss durch seine Adern.
Währenddessen rumpelte die bronzefarbene Kutsche über Stock und Stein. Der Minister klopfte an das Kutscherfenster: „Schneller Mann, schneller!“ Doch so eilig, wie sein Herz schlug, konnten die Pferde ihre Hufe nicht schwingen. In einer Kurve neigte sich die Kutsche gefährlich nach links, kam aus dem Gleichgewicht und kippte langsam in einen Misthaufen. Der Sekretär, der links gesessen hatte, landete mit dem Gesicht in der weichen, warmen Masse. Der Minister hatte Glück, denn er landete auf dem Sekretär. Die Käfige der ministrablen Brieftauben, die auf der Gepäckablage mitgeführt wurden, zerbrachen, und die Tiere flatterten panisch davon. Die Radachsen waren gebrochen. Der Kutscher weinte bitterlich, denn er liebte sein Dienstgefährt mehr als jeden, den er darin transportierte.
Das Volk, das in einer anderen Stadt auf den Minister gewartet hatte, drängte sich vergeblich auf dem Marktplatz. Der Bürgermeister, der wie in Trance auf das unbesetzte Rednerpult gestarrt hatte, räusperte sich jetzt und erhob die Stimme: „Die königliche Regierung hat uns im Stich gelassen. Dann muss ich wohl selbst eine Stegreif-Rede halten.“ Dies gelang ihm viel besser, als er befürchtet hatte. Er platzierte sogar einen wackligen Witz, das Volk klatschte begeistert, und den Minister vermisste keiner mehr.
Der stand inzwischen auf der Landstraße und schaute in beide Richtungen. „Niemals“, warf er sich vor, „hätte ich ausscheren dürfen!“ Ein Haus, ein Dorf, eine Stadt war nirgends zu sehen. Ein einsamer Reiter galoppierte vorbei, und der beschmutzte Sekretär versuchte, ihn aufzuhalten. „Geben Sie das Pferd her, der Minister braucht es!“ Der Reiter jedoch vermutete eine Falle und gab seinem Pferd die Sporen.
Es wurde dunkel, und kein Licht erhellte die Umgebung. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich für die Nacht hier einzurichten. Aus Gründen der Hierarchie bot der Sekretär dem Minister die einzige Wolldecke an, die dieser ablehnte. Von seinen beiden Untergebenen etwas getrennt, suchte er sich ein Lager im Straßengraben und schlang die Arme um sich selbst.
So viel Zeit zum Nachdenken hatte er Jahrzehnte nicht gehabt. Es war fast schon zu viel, denn nicht alle aufkommenden Gedanken waren schmerzlos. Lebte er überhaupt noch? Wen und was liebte er eigentlich? Brachte sein Einsatz das Land wirklich voran? Um nicht ganz elendig zu werden, summte er die Flötenmelodie vor sich hin, und tappte mit dem Fuß den Takt dazu. Wie würde sie auf einer Geige klingen? Im Gebüsch schrie eine Eule. „Uhuuu!“, antwortete der Minister, und fand das derart komisch, dass er kichern musste. Ohne sein Zutun wanderten seine Gedanken weiter zu einer rostigen Maschine, die irgendwo in seinem Schuppen lagern musste. Hatte er nicht einst versucht, damit ein revolutionäres Transportmittel zu betreiben? „Brmm, brmm“, machte der Minister.
Dass wenige Meter entfernt der Kutscher den Sekretär anstieß, bemerkte er nicht. Aber die Nacht war zu still und trug Geräusche zu weit, als dass er überhören konnte, was seine Untergebenen einander zuflüsterten: „Aus dem wird nie ein Würdenträger.“ „Das sieht ja jeder schon von Weitem, weil er partout seine Perücke nicht aufsetzen will.“
Und als am Morgen die erste Amsel ihre Arie anstimmte, begriff der Minister, was er seit Langem wusste.
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