Gabriele Bärtels
Der Friedhof
Erzählung
Berlin, 2021, Gabriele Bärtels
Umschlaggestaltung: Gabriele Bärtels
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Gestern war Totensonntag. An keinem Tag des Jahres laufen mehr lebende Menschen auf mir herum. Sie besuchen ihre Verstorbenen, und wenn sie durch eines meiner vier Tore schreiten, hemmen sie automatisch ihren Schritt. Es überkommt sie eine leise Ehrfurcht, jedenfalls dann, wenn sie nicht zum Personal gehören.
Heute verhüllt ein schwacher Nebel die winterharten Wacholderbüsche und Ahornbäume, an deren Zweigen noch vereinzelte, tiefrote Blätter baumeln. Eines davon segelt gerade auf den Kopf eines kitschigen Engels aus Polyresin, der vortäuscht, aus Marmor zu sein. Niemand außer mir hat es gesehen.
Die sieben Gärtner, die zugleich Totengräber sind, die Pastoren, Pfarrer, Betriebsleiter und Verwaltungs-Angestellten laufen immer schnell. Sie sind den Umgang mit denen, die sich in meiner Erde auflösen, gewohnt und spüren auch die Ruhe nicht, die alle anderen überkommt, die ein paar Meter weit auf der gepflasterten, leicht ansteigenden Allee entlanggehen, an deren Ende meine Kapelle aus roten Klinkersteinen steht.
Ende November strahle ich auf Menschen wohl die Stimmung aus, welche meinem Zweck am ehesten entspricht: Die Blätter der Laubbäume sind herabgefallen, kahle Äste recken sich in den grauen Himmel. Auf einigen Gräbern stehen starre, vertrocknete Stauden. Alle Grabsteine sind kalt, die Trampelpfade abseits der Hauptwege matschig, sämtliche Wasserhähne abgestellt. Es blühen nur noch zahlreiche Plastikblumen.
An einem ähnlich trüben Tag Anfang Dezember huschte eine schmale Dame durch das Osttor. Sie trug einen dunklen Mantel und Pumps, deren Absätze sich tief in den Schotter zwischen den Pflastersteinen bohrten. Sie sah sich suchend um, entdeckte einen Gärtner, der eine alte Weide beschnitt, machte einen Schritt auf ihn zu, als wollte sie etwas fragen, blieb zögernd stehen, wandte sich wieder ab. Offenbar hatte sie die Absicht, selbst nach einem bestimmten Grab zu suchen.
Keine einfache Aufgabe, denn ich bin weitläufig. Einige Bereiche sind mehrere Hundert Jahre alt, und die Mausoleen der ehemaligen städtischen Oberschicht stehen heute unter Denkmalschutz. Andere Bereiche wurden mehrfach umgegraben und neu genutzt, dabei sind auch sämtliche mit Hakenkreuzen versehenen Grabsteine ausgebaggert worden. Man riss zudem einen Eisenzaun ein und erweiterte meine Fläche um ein Drittel, so dass aus meiner ehemals quadratischen Anlage eine irgendwie eckige Sache geworden ist, umringt von einer hohen Mauer mit Toren in jede Himmelsrichtung. Im Winter werden sie vom Gärtnerlehrling nach Einbruch der Dunkelheit abgeschlossen, manchmal schon um fünfzehn Uhr.
Die Dame fror, ihre Pumps wurden matschig, sie presste ihre Tasche an sich und hielt mit der anderen Hand den Mantel zu. Bewundernswert systematisch ging sie Weg für Weg ab, entzifferte die Buchstaben auf den Grabsteinen, in Bronze gegossen, in Granit gehauen oder in Gold graviert auf schwarzem Marmor.
Ich kenne alle Namen und Geschichten der hier Begrabenen, auch der zu Asche Verbrannten und jener im anonymen Sammelgrab, denn ich habe sie voll und ganz absorbiert. Aber ich konnte ihr nicht helfen. Ich helfe nie jemandem, sehe seit Jahrhunderten nur zu, wie sich immer neue Menschen zu Trauerzügen formieren, die zunehmend kürzer werden, obwohl sich die Bevölkerung der Stadt, die mich umgibt, insgesamt verzehnfacht haben muss, sonst würden nicht so viele Leute sterben. Zahllose Grabreden hörte ich mit, die über den Verblichenen nur das Beste berichteten. Heutzutage bestellen nicht religiöse Menschen gern einen Trauerredner dazu. Denn ganz ohne Zeremonie, allein auf sich gestellt, würden die untröstlichen Angehörigen, die mit derlei Angelegenheiten keine Routine haben, keinen Anfang und kein Ende finden.
Ich fühle die rechteckigen Gruben, die man täglich in meine Oberfläche schlägt – inzwischen mit kleinen, wendigen Baggern - und wie tags darauf ein Sarg darin versenkt wird. Nach der Beerdigungszeremonie, wenn die Hinterbliebenen den Ort verlassen haben, schaufeln die Gärtner meine Wunde wieder zu, und stapeln die Blumenkränze auf den frischen Hügel.
Es braucht ein paar Tage, bis er über meinem neuen Dauergast zusammensackt und den neuen Sarg luftdicht umschließt. Beinahe sofort beginnt dann meine gute Erde ihr Werk zu tun, aber das geht so langsam vor sich, dass davon anfangs nichts zu merken ist.
Die Dame suchte eine Stunde und ahnte wahrscheinlich nicht, dass sie höchstens ein Viertel meiner Fläche abgeschritten hatte. Sie zitterte jetzt, ihre Fingerspitzen waren weiß, und ihre von halblangen Locken verdeckten Ohren leuchteten rot. Auf dem westlichen Hauptweg war sie dem Gärtner wieder begegnet. Er war unrasiert, trug schwere Gummistiefel und schob eine Karre mit Weidenruten vor sich her. Die Dame hielt den Kopf gesenkt, murmelte einen halben Gruß und eilte an ihm vorbei, als würde sie nicht suchen, sondern hätte ein Ziel.
Schließlich blieb sie stehen, neben dem Grab eines Wissenschaftlers, dessen Name ihr nichts sagte, obwohl es ein Nobelpreisträger war. Sie fummelte ein Smartphone aus der Tasche und rief mit angenehmer Stimme und höflichen Worten ein Taxi. Dann rannte sie den Hauptweg hinunter zum Osttor, so gut es ihre Stöckelschuhe zuließen. Der Blumenladen neben dem Eingang draußen hatte im Winter geschlossen. Ich hörte, wie ein Wagen heranfuhr, anhielt und abfuhr.
Schon um sechzehn Uhr brannte nur noch im Backsteingebäude der Friedhofsverwaltung Licht. Meine Tore waren fest verriegelt. Dunkelheit und noch mehr nasskalte Stille als tagsüber senkten sich über meine Wege und die unregelmäßigen Reihen aus Eisenkreuzen und Quadern. Weit entfernt war Autoverkehr zu hören. In der Nähe raschelten Amseln im Laub und hüpften von einem kahlen Zweig zum anderen, empört zwitschernd. Feldmäuse linsten unter Sandsteinumrandungen hervor, in denen sie sich ein warmes Winterlager bereitet hatten, ein Raum davon gefüllt von Bucheckern, die dieses Jahr reichlich gefallen waren. Die Augen eines Uhus glänzten im Dunkeln wie die einer Wildkatze.
Die Mauern, die mich umrahmen, sind hoch. Auf den First hat man Glassplitter in Beton gegossen. Doch ein blutiger Schnitt in der Hand hält Jugendliche nicht davon ab, ihre mitternächtlichen Mutproben zu wagen. In den Ecken mancher Mausoleen liegen leere Tabakbeutel, rostige Bierdosen und Kerzenreste - nicht die einzigen Zeugen ihrer nächtlichen Zusammenkünfte.
Irgendwann habe ich begriffen, dass sie hierherkommen, um sich zu gruseln. Das muss ein seltsames Gefühlsgemisch aus Angst und Lust sein. Von Geistern ist die Rede, von Vampiren, Verfluchten und herumwandernden Gerippen, aus deren leeren Augenhöhlen es rot glüht. Ich habe derlei hier noch nie gesehen. Auch die Füchse, Tauben und Katzen, die auf meinem Grund gestorben sind, tanzen nicht als durchsichtige Geister herum. Richtig ist, dass sich geflügelte oder vierbeinige Aasfresser und zuletzt Würmer und Mikroben an ihnen gütlich tun, bis sie ich sie vollkommen absorbiert habe.
Weil die jungen Leute mindestens zu zweit auftauchen und die Szenerie mit ihren Smartphones beleuchten, scheint ihr Grusel ohnehin nicht so stark zu sein: Dieselben erscheinen selten ein zweites Mal, und im Winter bleiben ohnehin alle weg. Auch die Zahl der Diebe, die früher häufig meine Mauern überwanden, hat sich drastisch reduziert. Es hat sich wohl herumgesprochen, dass auf meinem Gelände nichts mehr zu holen ist, außer für Fetischisten, Andenkenjäger und Grabschänder. Die wirklich wertvollen Bronzen und Statuen, die einst überall zwischen Hainen standen, sind bereits vor langer Zeit gestohlen worden oder wurden vorsorglich abgebaut.
Noch vor fünfzig Jahren blieben regelmäßig Besucher vor diesen Grabwächtern stehen und starrten gebannt auf in Stein gehauene Trauer, Hoffnung und ewige Liebe. Dass hinter Nadelbäumen diese mit Taubendreck bedeckten Köpfe durchschienen und steinerne Körper durch verschnörkelte Grabumzäunungen schimmerten, hatte mir einen Zauber verliehen, den meine Besucher in diesem Jahrtausend nicht mehr erahnen können.
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