Kein Hinterbliebener stellt heute mehr eine teure Originalplastik auf ein öffentlich zugängliches Gelände. Es überwiegen billige Kopien der meistverkauften Trauersymbole, gegossen in Beton oder Plastikgemisch. Dürers Hände, dicke Engel mit gesenkten Köpfen, gebrochene Herzen, rot lackiert, mit silbernem Flitter bestreut. Den Geschmack der Zeit scheint es zu treffen.
Einen Tag darauf erschien die Dame wieder zur selben Zeit. Diesmal trug sie warme Stiefel, Lederhandschuhe und einen dicken, grünen Schal, der sich wie eine Python um ihren zarten Hals schlang. Sie mochte um die Fünfzig sein, an den Schläfen wurde ihr Haar grau, aber ihr Gesicht war glatt und hell.
Heute zögerte sie nicht mehr lange, sondern hielt sich links, schritt zügig die Wege ab, wandte den Kopf hin und her, um beidseitig Namen zu entziffern, und stieß zu meiner Verwunderung sehr schnell auf ein unscheinbares Grab, das in zwanzig Jahren niemand mehr besucht hatte. Doch es wurde von der Gärtnerei gepflegt, und das bedeutete, dass noch Angehörige existierten, die für die Liegestätte zahlten. War die Dame eine Angehörige von Stefan Triesel, jenem jungen Mann, der sich vor dreißig Jahren mitten im Sommer das Leben genommen hatte?
Ähnlichkeiten konnte ich nicht feststellen, denn das Gesicht des Toten hatte sich längst aufgelöst. Ich sehe ihn stets in seiner derzeitigen Form, das sind lediglich noch einige seiner größten Knochen. Doch nicht nur sein Körper, auch seine Geschichte sind ein Teil von mir geworden, und in diesem Fall deckte sich die Grabrede, die sein älterer Bruder damals gehalten hatte, mit dem kurzen Leben des jüngeren: Er war ein Leidender gewesen, ein sanfter Weltschmerzensjüngling kurz vor dem Abitur, mit träumenden Augen.
Nie hatte er einem Menschen Schaden zugefügt, nur sich selbst. Er war in aller Herrgottsfrühe auf ein Baugerüst geklettert, hatte LSD genommen, eine halbe Stunde dort oben gesessen, noch bevor der erste Vogel einen Laut von sich gab. Und als ein schwacher Schein hinter den Dächern den Sonnenaufgang ankündigte und alle Vögel wie irre sangen, sprang er.
Nur ein verschlafener Passant, der seinen Hund ausführte, sah von der gegenüberliegenden Straßenseite den kurzen Sturzflug mit an, wandte sich aber ab und hielt die Ohren zu, bevor der Körper aufkam. Stefan Triesel lebte dann noch eine halbe Stunde auf dem Bürgersteig, die Schädeldecke zerschmettert, nur seine runde Metallbrille war heil geblieben. Ihre Gläser ruhen unversehrt in meiner Erde, das Gestell ist verrostet.
Die Dame schien gefasst, als sie jetzt stehenblieb und offenbar immer wieder den Namen las, den Geburtstag, das Sterbedatum. Der Grabstein war aus gewöhnlichem, grauem Granit, die Buchstaben eingefräst. Es blühten noch ein paar Alpenveilchen zwischen den robusten Bodendeckern, die jegliches Unkraut erstickten.
So halten die Gärtner die Gräber jener Toten pflegeleicht, deren Angehörige nicht mehr erscheinen, was früher oder später bei all meinen Toten der Fall ist. Erst dann, wenn sich keiner mehr erinnert oder die Nutzungsdauer abgelaufen ist, trennt sich die Menschheit endgültig von diesen Seelen. Die Fläche wird wieder geebnet, neue Liegestellen markiert und mit fünfstelligen Nummern versehen.
Natürlich gilt das nicht für die Ehrengräber der Stadt: Deren Liegezeit wird um Jahrzehnte verlängert, denn es scheint den Menschen wichtig zu sein, einen Ort zu haben, an dem die Erinnerung Gestalt annimmt, gleichgültig, ob man den Verstorbenen persönlich kannte und ungeachtet der Tatsache, dass nach dieser langen Zeit wirklich nichts mehr von ihm übrig ist. Die Erinnerung an ihn könnte demnach überall in gleicher Qualität erfolgen, aber vielleicht können sich die Menschen nur auf einem Friedhof wie mir darauf konzentrieren. Denn außerhalb meiner Grenzen scheint es inzwischen äußerst hektisch zuzugehen. Ich höre ja nur das Hupen, Quietschen und das Geschrei, aus dem ich mir oft keinen Reim machen kann. Und ich sehe, wie hinter meinen Mauern Gebäude wachsen, die gigantische Schatten auf mich werfen. Früher hatten sie höchstens vier Etagen, heute vierzig.
Die Dame sprach kein Wort, daher erfuhr ich nicht direkt, was der Anlass ihres Besuches war. Ich konnte mir aber ausrechnen, dass sie zum Zeitpunkt des Todes von Stefan Triesel etwa in seinem Alter gewesen sein musste. Und wenn sie nicht Schwester oder Cousine war, dann musste sie ihn geliebt haben. Niemand sonst hält so lange an einer Erinnerung fest.
Die Schulfreunde des jungen Mannes hatten die Abiturzeit weit hinter sich gelassen, waren wahrscheinlich zum Studium in andere Städte gezogen, hatten Familien gegründet und wieder zerstört. Stefan Triesels älterer Bruder war nach Amerika ausgewandert, und hatte seine Eltern nachgeholt. Das weiß ich, weil sie vor fünfzehn Jahren, kurz vor ihrer Abreise, das letzte Mal am Grab ihres Sohnes gestanden hatten, um ihm unter Tränen zu erzählen, warum sie ihn nie wieder besuchen würden. Da waren sie selbst schon grauhaarig.
Und diese Dame stand hier, als wolle sie zum Anfang ihres Lebens als ganz junge Frau zurückkehren. Weinte sie? Ihre Schultern zuckten. Vielleicht war es nur Ratlosigkeit.
Manche Menschen erhoffen sich etwas Großes, wenn sie vor ein Grab treten. Eine Erkenntnis. Eine Botschaft. Tränen. Verzeihung. Aber manchmal sind da nichts weiter als farbige Kiesel, in hübsche Muster gelegt, eine niedergebrannte Kerze, deren rote Plastikhülle bis oben hin voll Regenwasser steht. Und drei Gräber weiter zupft eine Witwe Unkraut aus dem Grab ihres Mannes und stört die Atmosphäre, die man sich eingebildet hat.
Von diesen Witwen gibt es hier viele. Man kann sie schnell verwechseln. Sie sind regelmäßig hier, grüßen einander und humpeln oft, wenn sie ihre Gießkannen von dem Gestänge holen, an dem an die hundert grüne, gelbe, rote und pinkfarbene Gießkannen hängen, jeweils mit Fahrradschloss gesichert. Jeden Fremden, der hier auftaucht, mustern die Witwen mit heimlichen Seitenblicken. Doch heute war keine von ihnen da, zu feucht, zu kalt ist das Wetter für ihr Rheuma oder ihre Gicht. Im Winter sind die Toten einsamer als im Sommer.
Jetzt hockte sich die Dame hin, achtete nicht darauf, dass die Kante ihres Mantels im feuchten Laub versank, legte eine Hand auf den eingravierten Vornamen Stefan, fuhr mit dem Zeigefinger die Buchstaben nach, langsam und zärtlich.
Ich kannte diese Dame nicht, aber sie machte einen kultivierten, selbstbewussten Eindruck. Mit dem verstorbenen Stefan Triesel zusammen konnte ich sie mir überhaupt nicht vorstellen. Er hatte Ledersandalen getragen, ausgebeulte Cordhosen und einen alten Parka. Hätte er seinen Weltschmerz überlebt, wäre er vermutlich ein verhuschter Professor geworden, mit feinen, weißen Händen. Oder ein Versager. Sicher war er mit achtzehn hübsch gewesen, hatte vielleicht dunkle Augen, dunkle Locken gehabt und einen festen, muskulösen Körper.
Aber ihm fehlte Haltung, das konnte man noch jetzt an seinen Knochen sehen. Seine Schultern waren ständig hochgezogen, seine Knie leicht eingeknickt. Damit stand er ganz im Gegensatz zu dieser sich sehr gerade haltenden Frau, die sich allein glaubte - was sie auch war, denn ich zähle ja nicht.
Trotzdem behielt sie ihre Gefühle im Zaum, presste nur die gefalteten Hände gegen die Brust, weinte nicht, sagte nichts, legte nichts nieder. Als sie sich aufrichtete und fortging, war ich fast sicher, sie morgen wieder zu sehen.
Am nächsten Tag um halb neun brach einen Sonnenstrahl durch die tiefhängenden Wolken und reflektierte sich in den Tropfen, die an allen Zweigen und Zäunen hingen. Die Temperatur lag knapp über null Grad.
Solange es noch dunkel war, hatten die Gärtner, die ihren Dienst um sieben Uhr früh antraten, in der Werkstatt des Betriebshofes Kettensägen und Heckenscheren gereinigt, Spatenblätter eingeölt und alle bis zum Frühjahr weggeräumt. In ihrem kargen Aufenthaltsraum packten sie dann ihre Thermoskannen und Brote aus, lasen zum zweiten Frühstück BILD-Zeitung. Vom Typ her waren sie alle nicht sehr gesprächig.
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