Vierschrötig, mit muskulösen Händen, in grober Arbeitskleidung traten sie nun heraus. Heute würden sie die abgeblühten Oleanderbüsche, die in zentnerschweren Töpfen den Platz vor der Kapelle einrahmten, in ihr Winterlager verfrachten.
Alle rauchten, bevor sie sich die Arbeitshandschuhe überzogen, nur der Lehrling nicht. Er war auch schmächtiger als die anderen.
Den Dampf, der aus den Gräbern stieg, die von der Morgensonne überflutet wurden, sahen sie nicht. Auch nicht, wie drei Eichhörnchen einen Fichtenstamm umrundeten, als sei er die Achse eines Karussells. Immer höher schraubten sie sich hinauf, balancierten dann über schmaler werdende Äste, setzten zum Sprung an, um auf einer Birke zu landen, die vor einer Reihe Doppelgräber stand.
Die Frauen auf den schwarzglänzenden Grabsteinen hießen Martha, Hermine und Erna. Die Männer Theodor, Ludwig und Karl. Sie waren alle um achtzehnhundertsiebzig verblichen, hatten nur wenige Straßen voneinander entfernt in Hinterhof-Wohnungen gelebt. Die meisten von ihnen kannten einander nicht.
Theodor betrieb einen Kohlenhandel, Ludwig war Schuster gewesen und Karl Seilmacher. Dass Theodor in seinen Dreißigern bei einer Brikett-Anlieferung Karls Gattin Erna kennengelernt hatte, was zu einer mehrjährigen Liebelei führte, aus der auch ein Kind hervorgegangen war, hatten die beiden Fremdgänger ihr Leben lang für sich behalten. Dieses Mädchen war im Aussehen glücklicherweise ganz nach der Mutter gekommen, wurde deren Gatten als Kuckuckskind untergeschoben und verschwand im Alter von sechs Jahren spurlos. Nur der Schuster Ludwig und ich wissen, was mit ihr geschehen ist. Dessen Frau Martha hat von seiner Neigung nie etwas mitbekommen.
Nun ruhten sie alle nur wenige Meter auseinander, immer links der Mann und rechts die Frau. Im kommenden Frühjahr würde dieser Abschnitt eingeebnet werden, denn die Platznot auf meinem Gelände ist groß, auch wenn der Trend zu Urnenbestattungen geht und zu anonymen Sammelgräbern.
Gärtner pflegen einen groben Umgang miteinander. Als sie einander anwiesen, wie die schweren Oleandertöpfe zu halten waren, hallten ihre Rufe weit über meine Flächen.
„Pack zu, Mann!“
„Quatsch nicht rum!“
„Uuuund Hauruck!“
Wenn sie rauchen und aus ihren Sprudelflaschen trinken wollten, zogen sie die Arbeitshandschuhe aus und deponierten sie auf dem nächst erreichbaren Grabstein. Trotz eindringlicher Ermahnungen war es dem Vorarbeiter Wolle nicht gelungen, den Gärtnern das achtlose Kippen-Wegwerfen und Auf-den-Boden-Rotzen abzugewöhnen.
Sonst blieb es den Vormittag über still. Nur die Sonne spiegelte sich in meinen Pfützen, bis sich das Loch in den Wolken wieder schloss, und ein leichter, sehr kalter Sprühregen einsetzte, der zum Schneeregen hintendierte, was die Gärtner nicht dazu veranlasste, ihre Arbeit zu unterbrechen. Zu Mittag zogen sie sich in ihren Aufenthaltsraum zurück, der von einer glühenden Nachtspeicherheizung gewärmt wurde.
Als die Glocke einer nahe gelegenen Kirche eins schlug, und sie wieder an die Arbeit gingen, trat ein Mann durch das Nordtor, und ich erkannte ihn sofort. Sein Name war Eugen. Seit Jahren trieb er sich auf dem Friedhof herum, war jetzt aber ein halbes Jahr nicht aufgetaucht, so dass ich zu hoffen gewagt hatte, er sei für immer verschwunden.
Eugen war ein Mann um die Vierzig. Seine ehemals schmächtige Gestalt hatte er mithilfe jahrelangen Krafttrainings um das Doppelte aufgepumpt, bis hin zu einem Stiernacken. Nur sein kahl geschorener Kopf thronte jetzt viel zu klein auf seinem hart erkämpften Körper.
Dass er hier bei mir nie beabsichtigte, einen Toten zu besuchen, erkannte man an seinem Schlendergang. Dieser hatte nichts von der respektvollen Verhaltenheit, welche andere Menschen befällt, die selten einen Friedhof besuchen. Es war ein selbstgefälliger Schritt, der zur Schau tragen sollte, dass er innerlich vollkommen ruhig war. Gleichgültig, welches Wetter herrschte: Eugen trug immer helle, figurbetonte Sachen und stach somit auf meinem Gelände, auf dem sich Menschen überwiegend dunkel bis schwarz kleideten, besonders hervor.
Eugen war von Beruf Schmeißfliege, ein Gefühlsstaubsauger, und gefährlicher, als man auf den ersten Blick annehmen mochte. Er hatte es auf Trauernde abgesehen, die allein an einem Grab standen und sichtliche Anzeichen von Betroffenheit zeigten.
Seine Beute merkte nicht, wie er sie von fern umkreiste, unauffällig belauerte und zu analysieren versuchte. Schien es, als gerate der Trauernde zunehmend aus der Fassung, dann erst sprang Eugen hinter einem Grabstein hervor und hielt dem Untröstlichen mit gramvoller Mitleidensmiene und einer leichten Verbeugung ein Papiertaschentuch hin, das dieser meistens intuitiv ergriff.
Nach dieser ersten Kontaktaufnahme nahm Eugen sofort wieder Abstand, entfernte sich, verschwand hinter einem ausladenden Obelisken, wartete, beobachtete. Erst, wenn der tief Betrübte Anzeichen machte, sich vom Grab zu lösen, sich umdrehte und gesenkten Kopfes ging, kreuzte er wieder wie zufällig seinen Weg, lächelte diesmal schmerzlich und sagte etwas Ähnliches wie: „Es ist schwer.“ Oder: „Die ganze Trauer.“
Dazu brauchte der Hinterbliebene nur zu nicken, denn er musste ja annehmen, dass sein Gegenüber ein Trauernder war, der ein Grab besucht hatte wie er selbst. Schon war er in ein Gespräch verstrickt.
Nur wenige Menschen erkannten Eugens Absichten sofort. Es waren Leute mit glasklaren Augen, die das Dringliche spürten, das Eugen gegen seinen Willen aussendete. Diese Personen sagten streng: „Gehen Sie bitte!“, und dann fuhr Eugens kleiner, kahler Kopf zwischen seine Muskelschultern. Er machte einen Schritt zurück und ging ganz leise fort.
Die meisten jedoch ließen sich auf das Gespräch ein, schon weil sie noch immer das freundlich überreichte Papiertaschentuch des fremden Herrn in ihren Händen wanden. Möglicherweise hatte Eugen auf meinem Grund und Boden auch deshalb leichtes Spiel, weil es im öffentlichen Raum einer Stadt kaum Orte gibt, an denen Gefühle so angebracht, so respektiert und hoch bewertet werden, höher vielleicht als die Vernunft.
Meine Anlagen sind weitläufig genug, dass er den Gärtnern und Angestellten aus dem Weg gehen konnte. Nie sah er sich nie nach ihnen um, geschweige denn, dass er sie grüßte. Er nahm wohl an, dass ihn das selbst unsichtbar machen würde.
Das war mitnichten der Fall. Die Gärtner kannten Eugen besser, als er glaubte. Als sie seine helle Gestalt hinter einer Taxus-Reihe verschwinden sahen, knurrte der eine dem anderen zu: „Der Tränensack ist wieder da.“
Ähnlich reagierten die Witwen, die mindestens einmal die Woche erschienen. Sie weinten schon lange nicht mehr um ihre Ehemänner, sondern sahen sich in der praktischen Pflicht, deren Andenken in Ehren zu halten und deren letzte Liegestätten zu pflegen. Manchmal, wenn Eugen zu nah an einer dieser gebeugten Frauen vorbeiging, welche Haarnetze oder Kopftücher trugen, spuckten sie hinter ihm auf den Weg, dies aber leise. Friedhofsgeier, dachten sie dabei.
Aber es kamen ja immer neue, die von all dem nichts wussten, und das galt auch für die Dame, die tatsächlich eine halbe Stunde später auftauchte, ihr Schal war um Kopf und Hals gewickelt. Zielsicher fand sie nun ihren Zickzackweg in die Ecke mit Stefan Triesels Grab, blieb am Fußende stehen, strich sich eine Lockensträhne aus dem Gesicht und begann übergangslos zu weinen, so dass sogar ich erschrak, der Millionen Tränen gesehen hat und noch sehen wird.
Während sie da stand, eine schmale, biegsame Gestalt, schlich Eugen sich an. Ich habe viele Büsche und Mauern, hinter denen er sich verbergen kann. Jetzt trat er von der Seite in ihr Blickfeld, trug seine todernste Miene zur Schau, reichte der Dame, die einen erschrockenen Schritt zurückgemacht hatte, das Papiertuch. Sie fasste automatisch danach, weil sie von dem plötzlichen Erscheinen des Mannes verwirrt war, und sah zu, wie er sich entfernte, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.
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