Gabriele Bärtels - Tollhaus

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In dieser ausgesprochen absurden, surrealen Geschichte realisieren die Insassen eines Heimes, dass man sie allein gelassen hat. Es sind Verrückte, die nun nichts mehr zu essen haben. Sie nehmen die Umwelt nur durch die Filter ihrer Ticks wahr. Jetzt sind sie gezwungen, ihr Landschlösschen zu verlassen und wollen zum König wandern, um ihr Personal zurückzufordern. Unterwegs stellen sie fest, dass Krieg herrscht. Sie begegnen abenteuerlichen Gestalten.
Der König ist amtsmüde und unglücklich. Seine Königin will ihn verlassen und hat eine Intrige gesponnen, um das Verrücktenheim zu einem glanzvollen Landschloss für sich allein zu machen. Um sich von seinen Problemen abzulenken, verlangt der König laufend nach Musik und neuen Gästen.
Als ein Diener die herumirrende Gruppe auf der Straße entdeckt, lädt er sie in das Königsschloss ein. Damit zerbricht die alte Ordnung endgültig, und das Chaos explodiert. Am Ende trägt jemand anderes die Krone, es gibt ein Liebespaar und einige Tote.

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Gabriele Bärtels

Tollhaus

Absurder Roman

Berlin 2021, Gabriele Bärtels

Umschlaggestaltung Gabriele Bärtels

gabriele-baertels.de

Alle Rechte vorbehalten.

1. Kapitel

Es ist halb acht. Die Frau mit dem Staubtuch betritt den Flur.

Sie wischt ein Fensterbrett ab und sagt mechanisch: "Wir sind allein geblieben. Man hat uns verlassen. Wir kriegen nichts mehr zu essen, und in ein paar Tagen sind wir alle tot."

In einem Zimmer stehen zwei Betten dicht nebeneinander. Zwei schlafende Gestalten träumen den letzten Traum der Nacht. Die Pracht sieht sich in einer weißen Kutsche über eine Brücke fahren. Mitten auf der Brücke halten die Pferde und sie steigt aus. Der Wind weht und ihr Seidenschal flattert. Sie stellt sich breitbeinig an das Geländer und schaut hinab. Unter ihr rasen Pferde vorbei, von Soldaten gepeitscht.

"Ja," schreit sie gegen den Lärm: "Kommt. Kommt nur. Ich bin bereit."

Albert schnarcht. Er hat im Traum eine Rede gehalten.

"Du hast recht," toben die Massen im Chor, "Du hast recht."

Albert verbeugt sich tief und fühlt sich sehr bescheiden. Man gibt ihm zu Ehren ein Konzert.

Beide wachen gleichzeitig auf. Sie wenden einander die Köpfe zu, reichen sich über den Abstand zwischen den zwei Betten die Hände und himmeln sich an.

"Es befindet sich ein verstecktes Auge im Zimmer, das fühle ich," sagt die Pracht.

Sie richtet sich auf und ordnet ihre Haare. Unter jedem Auge hat sich Wimperntusche in einem schwarzen Bogen abgedrückt.

"Wie sehe ich aus?"

"So frisch wie der Tau auf den Gräsern," sagt Albert. "Die Öffentlichkeit steht vor der Tür. Ich muss mir den Mund mit Seife auswaschen. Man schreibt ja alles mit."

Die Pracht schüttelt ihre Haare, steigt aus dem Bett und streckt sich dekorativ. Sie trägt ein zerdrücktes, paillettenbesetztes Abendkleid und hohe Sandaletten in Schuhgröße 44.

"Wo ist das Auge“, fragt sie, "ich weiß gar nicht, wohin ich meine Schokoladenseite halten soll."

"Ich werde Ruhm ernten gehen, wie alle Tage," antwortet Albert und schwingt die Beine über die Kante.

"Schön gesagt, Liebling," antwortet die Pracht. "Soll ich neben Dir stehen, wenn Du Deine Rede hältst?"

"Es wäre eine Hilfe. Wo ist mein Schlafrock?"

Über dem Gitter des Bettes liegt ein alter Bademantel. Albert zieht ihn an sich.

"Soll ich gleich so?"

"Warum nicht?“sagt die Pracht und rückt ihr Kleid zurecht. "Du siehst so herrlich zerzaust aus, wie ein echter Philosoph."

"Ich bin ein echter Philosoph."

"Sag ich doch." Die Pracht macht eine Pause. "Ich muss auf die Toilette, aber ich kann nicht wegen des Auges."

Albert zuckt mit den Schultern, es ist ihm egal. "Bist Du bereit?“fragt er.

Die Pracht fährt sich noch einmal durch die Haare, dann tritt sie neben Albert. Sie nimmt seinen Arm und beide schreiten zur Tür. Die Pracht drückt die Klinke herunter, Albert dankt und hält kurz die Luft an. Die ersten Sätze müssen sitzen. Die Tür geht auf, und das Paar tritt auf den langen Flur.

Dort steht die Frau mit dem Staubtuch. Der Anblick der beiden erleichtert sie.

"Man hat uns allein gelassen," sagt sie und wischt sich mit dem Tuch den Mund.

Dann fällt sie auf die Knie und wischt den Fußboden. Zentimeter für Zentimeter, in den Ecken besonders gründlich.

Albert und die Pracht schauen nach rechts und nach links. Bis auf die Frau mit dem Staubtuch ist niemand zu sehen.

"Das ist ungewöhnlich," sagt die Pracht. "Nur ein Zuhörer. Lohnt sich das? Wenigstens gibt es noch das Auge."

Albert antwortet nicht. Er will den Anfang seiner Rede nicht verwässern. Er zieht den Gürtel des Bademantels fester und ruft den Flur hinauf und hinab: "Unser heutiges Thema ist das Spiegelbild und das Echo."

"Hört, hört!“, ruft die Menge in seinem Kopf.

"Spiegelbild und Echo existieren nur so lange, wie wir ein Bild auf eine reflektierende Oberfläche werfen oder einen Ton in einen Resonanzkörper. Ein Ton in einem Spiegel dagegen erzeugt kein Bild. Er erzeugt auch kein Echo. Und wir können uns vor einen Resonanzkörper stellen und uns drehen und wenden, wie wir wollen, es wird uns kein Ton zurückgeworfen und ein Bild auch nicht."

Die Pracht nickt gewichtig.

Die Frau mit dem Staubtuch rutscht auf allen vieren den Flur entlang. Sie ist beschäftigt.

Albert kommt in Fahrt und erhebt die Stimme: "Der Grad der genauen Wiedergabe hängt von der Beschaffenheit der reflektierenden Oberfläche und des Resonanzkörpers ab."

Die Frau mit dem Staubtuch hat das Ende des Flures erreicht, stellt sich ächzend auf die Beine und sagt: "Es ist doch schon so spät."

Die Pracht prüft ihre Fingernägel und flüstert: "Hunger habe ich. Aber man sollte nicht essen, wenn man beobachtet wird. Es macht sich nicht gut. Niemand ist attraktiv, während er isst."

Albert hört Stimmen rufen: "Offenbarung!" Er senkt sein Haupt.

"Genug. Ich habe alles gesagt. Die Philosophie der Primzahl wird mein nächstes Thema sein."

Die Pracht haucht: "Du bist so klug,“ und schaut ihn bewundernd an.

"Und Du bist so schön," schmachtet Albert und winkt den vielen Leuten.

Weitere Zimmertüren öffnen sich.

In einem Gitterbett liegt ein Mann. Sein Schädel hat kreisrunde, kahle Stellen, seine Augen sind sehr groß. Er trägt um beide Handgelenke eine Ledermanschette und wartet darauf, dass ihn jemand losbindet. Niemand kommt. So singt er sich wieder zurück in den Schlaf. Sein Körper schaukelt im Takt hin und her. Seine Windeln sind voll.

Die Nonne beugt sich über das Bett des kahlen Mannes. "Mein armer Junge," sagt sie. "Hat man Dich vergessen? Es ist immer das Gleiche. Wenn ich nicht wäre. Und das Himmelreich."

Eine weiße Dame streckt die Hände nach dem kahlen Mann aus und klammert sich um seine Handgelenke.

"Lass mich," sagt er und zappelt, soweit die Fesseln es zulassen. Seine Stimme ist hoch und flach. "Ich bin nur ein Bauer."

Die Nonne schnallt dem kahlen Mann die Manschetten ab und sagt: "Ärmster. Was redest Du da. Du bist mein kleiner Prinz", und greift nach den Windeln.

Der kahle Mann stößt die weiße Dame weg. Er zieht sich die Windeln herunter und die Nonne schaut schnell weg.

"Ich will Dir doch nur helfen," sagt sie mit abgewandtem Gesicht.

"Mir kannst du helfen," dröhnt da eine Stimme aus der anderen Ecke des Zimmers. "Hol mir mal meine Schuhe, aber dalli," sagt der Boxer. "Ich habe keine Hände."

Er hält seine groben, ledernen Boxhandschuhe hoch.

"Wo stehen sie denn?", fragt die Nonne mit kleiner Stimme.

"Wo sie immer stehen. Unter dem Bett. Bücke Dich halt ein bisschen, dann habe ich was zu gucken." Der Boxer lacht gewaltig.

Die Nonne schlägt ein Kreuzzeichen. "Ich helfe ja gerne,“ sagt sie und presst die Tränen zurück, "aber ein Bitte oder Danke würde ich schon mal gerne hören."

"Du wüsstest gar nicht, was Du damit anfangen sollst, Du kranke Schwester. Du lebst doch nur von dem, was Du nicht kriegst. Also mach schon, Du wirst Dich gut fühlen, wenn Du Dich gebückt hast."

Die Frau mit dem Staubtuch ist durch alle Zimmer gegangen. Überall hat sie die Ecken ausgewischt und die Fensterbretter und immer dasselbe vor sich hin gemurmelt: "Man hat uns allein gelassen. Wir werden sterben."

Die weiße Dame dreht sich weg und ihre obere Hälfte bricht ab. Der kahle Mann stößt einen Schrei aus.

Die Nonne, rot im Gesicht vom Bücken, wendet sich nach ihm um. Da steht er in kurzen Hosen, den Blick starr auf ihre Beine gerichtet.

Die Nonne erschauert vor Mitgefühl. "Armer Junge. Er hat Hunger." Sie macht einen Schritt auf den kahlen Mann zu.

Der sieht sie wild an und wankt auf unsicheren Beinen aus dem Zimmer. Im Flur stehen lauter Schachfiguren. Er drängt sich am schwarzen Pferd vorbei und zwischen zwei Läufern durch, stolpert über einen weißen Bauern und fällt beinahe dem schwarzen König vor die Füße.

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