"Schach," zischt dieser ihm zu, als er vorüber taumelt. Er versteckt sich hinter zwei Türmen.
"Was ist hier los?“fragt die Frau mit dem Staubtuch und poliert einen Kerzenhalter an der Wand. "Es ist nicht so wie alle Tage. Um diese Uhrzeit wird der Morgenbrei verteilt. Ich komme um acht Uhr, da ist er noch heiß. Einmal bin ich um zehn nach acht gekommen, da gab es keinen mehr. Ich konnte es an diesem Tag nicht wieder gut machen."
Sie schaut auf. Viele Menschen laufen durcheinander. Ihre Hand bewegt sich immer schneller.
"Bitte in einer Reihe aufstellen," ruft sie. "Nach Schuhgrößen sortiert."
Die Nonne stellt sich mit dem Gesicht zur Wand.
"Braucht jemand Hilfe?“fragt sie leise. Als keine Antwort kommt, fängt sie an zu beten.
Der Körper geht durch den Gang. Seine Augen blicken nicht. Alles an ihm hängt, auch seine Hände. Ein Fuß wird hochgezogen und wieder fallengelassen. Daneben fällt der andere. Fünfzig Meter bis zur Tür am anderen Ende.
"Den haben sie gestern abgeschossen," sagt der Boxer. Er hat eine Pfeife zwischen seine Boxhandschuhe geklemmt und raucht.
"Das darf man hier nicht," flüstert eine blasse Gestalt in einem langen weißen Nachthemd. Ihr Kopf ist mit einem weißen Schal verhüllt. Sie hat kein Gesicht. Sie weht weiter.
Der Boxer zuckt die Schultern und klopft die Pfeife über dem Steinfußboden aus. Die blasse Gestalt dreht sich um und kommt zurück. Sie huscht an der Wand lang.
"Wissen Sie, was ein Wahrnehmungsfehler ist? Ich kann es Ihnen sagen. Wenn Sie an einem Menschen zuerst etwas subjektiv Positives entdecken, dann sind Sie geneigt, alles Weitere ebenfalls positiv zu bewerten."
Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und haucht dem Boxer ins Ohr: "Sagen Sie, ist Liebe nur ein Wahrnehmungsfehler?"
Der Boxer hebt die Fäuste in Abwehr über den Kopf und duckt sich. "Ich habe mit Liebe nichts zu tun. Das ist was für Leute mit zu viel Zeit. Ich bin beschäftigt. Ich habe alle geboxt. Ich bin der Beste, falls Sie wissen, was das heißt. Es tut weh, der Beste zu werden. Man muss viele Schläge einstecken. Alles schmerzt. Man braucht Tage, um sich zu erholen. Man geht in den Kampf und keiner kommt unversehrt heraus. Die Ringrichter richten nicht über Recht oder Unrecht. Sie messen nur die Stärke, die Schlauheit, die Schnelligkeit und die Treffsicherheit. Man kämpft ohne Grund. Ein Kampfhund. Ein Kampfhahn. Eine Kampfmaschine. Ich hasse aus Prinzip. Ich kämpfe, weil sie mir meinen Titel wegnehmen wollen. Wozu sollte ich sonst die Fäuste gegen sie erheben? Das ist doch dumm von ihnen, finden Sie nicht? Ich wäre ein friedlicher Mensch, wenn ich nicht kämpfen müsste. Glauben Sie mir einfach, dann tue ich Ihnen auch nichts."
Dem Boxer laufen Tränen über die Wangen. Er wischt sie mit den Boxhandschuhen ab. Das Leder der Handschuhe glitzert feucht.
Die Gestalt legt eine magere Hand auf des Boxers Arm. "Sie sind ein bedauernswerter Mann," flüstert sie.
Der Boxer nickt. "Ja, das bin ich. Alle wollen sich an mir reiben. Glauben Sie mir, ich könnte lieben. Ich fühle es. Es ist alles begraben in mir. Niemand lässt mir die Zeit und die Ruhe, meine schönen Seiten zu zeigen. Ich kann singen, wissen Sie? Aber wenn einer singt, ist er nicht in Deckung. Ich bin eine raue Schale. Das ist die Trauer, die mich antreibt. Der Ring ist ein Kreis. Mit Liebe habe ich nichts zu tun."
"Sie haben mit mir zu tun," haucht die blasse Gestalt durch den Schal, und der Boxer muss sein Ohr tief neigen, damit er die Worte versteht.
Der Körper kommt zurück. Ohne aufzusehen, hat er einen Meter vor der Tür angehalten und sich dann teilnahmslos umgedreht. Man geht ihm aus dem Weg.
Der Boxer schaut ihm entgegen. "Der läuft so automatisch wie ein Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat."
Die blasse Gestalt zieht den Schal enger um den Kopf und flüstert: "Das ist mein Körper. In einer Menschenmenge haben wir uns aus den Augen verloren."
Am anderen Ende des Ganges kriecht die Frau mit dem Staubtuch vor der Tür herum. Sie hat die Fußleisten abgewischt. Fünfzig Meter rechts und fünfzig Meter links. Auf der Tür sind viele Fingerabdrücke.
"Ich habe meine Bürste nicht", murmelt sie. "Ich versuch´s trotzdem."
Sie spuckt auf das Tuch und presst es gegen das Holz. Sie reibt hin und her, bis es quietscht. Sie beugt sich zurück und prüft das Ergebnis. Ärgerlich schüttelt sie den Kopf.
"Nur Streifen."
Wieder drückt sie das Tuch gegen die Tür und diese geht dabei langsam auf. Da kommt der Körper zurück. Er spaziert geradewegs durch die offene Tür hinaus.
Die Frau mit dem Staubtuch schaut ihm nach.
"Man hat uns allein gelassen," wiederholt sie. "Die Tür steht offen, das sollte sie nicht. Wir werden alle sterben."
Die blasse Gestalt wispert: "Mein Körper ist hinausgegangen."
Die Frau mit dem Staubtuch kann ihre Hände nicht mehr ruhig halten. Die zittern so, dass sie sie unter die Achselhöhlen steckt und mit den Oberarmen fest an den Körper presst.
"Das geht nicht. Dahinter ist nichts. Das Leben geht von hier bis da und nicht darüber hinaus. Mach sie zu, mach sie zu!"
Der Körper kommt nicht mehr zurück. Niemand sonst ist hinausgegangen. Sie drängen sich vor der Öffnung.
"Man könnte hinausgehen und siegen," sagt der Boxer. "Aber davor steht der Kampf."
Die Pracht reibt sich an ihm. Sie wirft ihr Haar zurück.
"Geh kämpfen. Tu's für mich. Trag mich über die Schwelle in die Freiheit. "
"Brauchen Sie Hilfe?“, fragt die Nonne die Wand.
Die blasse Gestalt flüstert: "Begraben Sie mich bitte. Mein Körper hat mich verlassen. Ich muss wohl tot sein."
"Man begräbt nur Körper, nicht Seelen. Die steigen an den Himmel, dort verdunsten sie und kommen als Regen wieder herunter," sagt Albert.
Die blasse Gestalt schwebt hin und her.
"Eben konnte ich ihn wenigstens noch ansehen. Ich erinnerte mich, wie ich aussah, ich hatte sogar eine Idee, wie ich mich gefühlt habe. Wenn ich müde war oder traurig oder aufgeregt. Wie das Herz dann schlug und das Blut rauschte und die Tränen flossen oder der Schweiß. Nun ist er fort."
"Nehmen Sie sich einfach einen anderen," schlägt der Boxer vor. "Hier stehen doch genug davon herum."
Die Pracht klatscht in die Hände. "Das ist wunderbar. Suchen Sie sich den schönsten aus. Soll es ein Mann sein oder eine Frau? Nehmen Sie einen jungen, das könnte Ihr Leben glatt verdoppeln. Ach, ich wünschte, mir würde mal jemand so eine Chance geben." Sie raunt Albert zu: "Komme ich gut rüber?"
"Deine Seele hat Dich längst verlassen," sagt Albert, "und Du hast es nicht einmal bemerkt. Du bist eine Pracht. Du isst nicht, du scheißt nicht. Du musst nie niesen. Du bist immer schön. Das ist verdächtig."
Die blasse Gestalt haucht: "Mit den Jahren haben wir uns einander angepasst wie ein Schuh und ein Fuß. Ihr Körper würde mir Druckstellen verursachen."
Der Boxer wirft ein: "Meine Liebe, Sie haben ihn nicht gut dressiert. Meiner würde nicht so unkontrolliert davonlaufen. Den habe ich im Griff." Er fällt auf die Boxhandschuhe und pumpt dreißig Liegestütze. "Sehen Sie," sagt er von unten. "Ob es ihn schmerzt oder nicht. Der macht alles mit."
Die Frau mit dem Staubtuch mischt sich ein: "Ich würde sagen, der Körper hat die Seele verlassen, weil die Tür offen stand."
Sie wischt mit dem Tuch über ihren Mund. "Ich bin so dumm."
Die Nonne nimmt ihren Blick von der Wand und stürzt sich auf die Gelegenheit: "Um Gottes Willen, bleiben Sie friedlich. Brauchen Sie Hilfe?"
Dem kahlen Mann sind die Türme weggelaufen. Vor ihm häufen sich Schachfiguren auf dem quadratisch verlegten Linoleumboden. "Bin ich weiß oder bin ich schwarz?“fragt er.
Die blasse Gestalt klammert sich an die Nonne: "Ja. Ich brauche Hilfe. Ohne Körper weht mich der Wind in jede Richtung."
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