Gabriele Reuter
Gesammelte Werke
Romane und Geschichten
Gabriele Reuter
Gesammelte Werke
Romane und Geschichten
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
1. Auflage, ISBN 978-3-962814-07-6
null-papier.de/597
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Aus guter Familie
Erster Teil
Zweiter Teil
Das Tränenhaus
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Der Amerikaner
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Ellen von der Weiden
1
2
3
4
5
6
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9
10
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12
13
14
15
16
17
Frauenseelen
Treue
Graue Stunden
Clementine Holm
Kinder
Die Frau mit den Ziegenfüßen
Five o’clock
Eines Toten Wiederkehr
Schwester Elisabeth
Die Barmherzigen
Das Opernglas
Ins neue Land
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Irmgard und ihr Bruder
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
Literaturverzeichnis
Index
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Ihr
Jürgen Schulze
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Aus guter Familie
Erster Teil
Breit und hell fiel ein Strahl der Frühlingssonne durch das verstaubte Bogenfenster einer Dorfkirche. Er durchschnitt als warmer, glänzender Streifen die graue Dämmerung und verlor sich hinter weißem Gitter in den schattig-feuchten Tiefen des Pfarrstuhles, den mehrere festlich gekleidete Herren und Damen besetzt hatten. Mitten in der Lichtbahn stand die Konfirmandin vor dem Altar. Das kleine Kreuz auf ihrer Brust glühte gleich einem überirdischen Symbol, und wie ein Kranz weltlicher Herrlichkeit flimmerte, von tausend Goldfunken durchsprüht, das braune Haar über dem rosenroten, tränenbetauten, feierlichen Kindergesicht.
Sie stand ganz allein an dem heiligen Orte, durchschauert von der Bedeutung des Augenblicks – bangend, das Gelübde auszusprechen, das auf ihren Lippen schwebte und sie für ein Leben der Wahrheit und der Heiligung unwiderruflich verpflichten sollte.
Hinter ihr, zwischen den schmalen Holzbänken, hörte sie das Gepolter einiger niederknienden Tagelöhnerkinder, die bereits die Einsegnung empfangen hatten. Agathe wünschte plötzlich mit krankhafter Heftigkeit, unter den peinlich glattgekämmten und rotgeseiften Köpfen, den ungeschickten Gestalten dort sich verbergen, sich an der Gemeinschaft mit ihnen stärken zu können.
Ihr Herz wollte sein Schlagen aussetzen, eine Furcht ergriff sie, ein Schwindel, indem sie auf die Knie sank und den Kopf mit dem Gefühl neigte, es müsse in der nächsten Minute ihr Dasein, das froh empfundene Dasein, gegen einen Zustand von fremder Schauerlichkeit, voll erhabener Schmerzen und beklemmender Wonnen eingetauscht werden.
Über sich hörte Agathe die sanfte, ernstfeierliche Stimme des Geistlichen die Frage an sie richten: ob sie dem Teufel, der Welt und allen ihren Lüsten entsagen, ob sie Christo angehören und ihm folgen wolle. In süßer Schwermut hauchte sie »ja«, fühlte die Berührung der segnenden Hände auf ihrem Haupte und versuchte mit gewaltsamer Anstrengung, alle ihre Sinne einzutauchen in die Anbetung der ewigen Gottheit – des Herrn, der über ihr schwebte.
Aber sie vernahm das Rauschen ihres eigenen seidenen Kleides; ein gerührtes Flüstern und unterdrücktes Schluchzen drang aus dem Pfarrstuhl, wo ihre Eltern saßen, zu ihren Ohren; sie hörte ein Gesangbuch irgendwo polternd zur Erde fallen und eine gemurmelte Entschuldigung – sie lauschte auf die falschen Töne, die der Küster bei seiner leisen Orgelbegleitung griff – sie musste an ein Buch denken, an eine anstößige Stelle, die sie verfolgte … Tränen quollen unter ihren gesenkten Lidern hervor, krampfhaft falteten sich ihre Hände, auf den schwarzen Handschuhen sah sie die Tränentropfen nasse Flecke bilden – sie konnte nicht beten …
Nicht in dieser Stunde? Nicht während weniger Sekunden konnte sie Gott allein angehören? Und sie hatte geschworen, für ihr ganzes Leben dem Irdischen abzusagen! Sie hatte einen Meineid geleistet – eine untilgbare Sünde begangen! Mein Gott, mein Gott, welche Angst!
Versuchte der Teufel sie? Es gab doch einen Teufel. Sie fühlte ganz deutlich, wie er in ihrer Nähe war und sich freute, dass sie nicht beten konnte. Lieber Gott, verlass mich doch nicht! – Vielleicht kam die Prüfung über sie, weil sie in der Beichte, die sie hatte niederschreiben und dem Geistlichen überreichen müssen, nicht aufrichtig gewesen … Hätte sie sich so entsetzlich demütigen sollen … das bekennen? Nein – nein – nein – das war ganz unmöglich. Lieber in die Hölle!
Der Schweiß brach ihr aus, so peinigte sie die Scham.
Das konnte sie doch nicht aufschreiben. Tausendmal lieber in die Hölle!
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