Ach – wäre sie doch lieber ein Vögelchen geworden oder eine Blume!
Auf einem ganz schmalen Pfade ging Agathe endlich zum Mühlteich hinab. Er lag am Ende des Gartens, der sich vom Hause her in sanfter Senkung bis zu ihm streckte. Weil die Pastorsjungen beständig ins Wasser gefallen waren, hatte man den Weg zuwachsen lassen. Agathe musste die Gebüsche auseinanderbiegen, um hindurch zu schlüpfen. Sie wollte Abschied von dem Bänkchen nehmen, das unten, heimlich und traulich versteckt, am Rande des Weihers stand. Im vergangenen Herbst hatte sie viel dort gesessen und gelesen oder geträumt, auch in diesem Frühling schon, in warmen Mittagsstunden.
Am linken Ufer des stillen Sees, der weiter hinaus zu einem sumpfigen Rohrfeld verlief, lag die Mühle mit ihrem überhängenden Strohdach und dem großen Rade. In der Bucht am Pfarrgarten zeigten sich auf dem Wasser kleine Nymphäen-Blätter. Im Herbst war es hier ganz bedeckt gewesen von den grünen Tellern, und darüber flirrten die Libellen. Die schleimigen Stiele der Pflanzen drängten sich sogar durch die grauen Planken des zerfallenen Bootes, welches dort im Wasser faulte.
Anfangs hegte Agathe romantische Träume über den alten Kahn: dass er draußen in Sturm und Wellen gedient – dass er das Meer gesehen habe und an Felsenklippen gescheitert sei. Die kleinen Pastorsjungen hatten sie aber mit dieser Geschichte ausgelacht. Das Boot wäre immer schon auf dem Mühlteiche gewesen, doch bei den vielen Wasserpflanzen und den Rohrstengeln könne man ja gar nicht fahren; da sei es durchs Stilleliegen allmählich ein so elendes, nutzloses Wrack geworden. Nun konnte Agathe das Boot nicht mehr leiden. Es stimmte sie traurig. Ihre junge Mädchenfantasie wurde bewegt von unbestimmten Wünschen nach Größe und Erhabenheit. Sie dachte gern an die Ferne – die Weite – die grenzenlose Freiheit, während sie an dem kleinen Teich auf dem winzigen Bänkchen saß und sich ganz ruhig verhalten musste, damit sie nicht umschlug und damit die Bank nicht zerbrach, denn sie war auch schon recht morsch.
Plötzlich fiel Agathe die Beichte wieder ein, die sie hatte niederschreiben und ihrem Seelsorger übergeben müssen. Ihre Halbheit und Unaufrichtigkeit … und nun wurde es ihr zur Gewissheit, die Schuld des Unfriedens, der diesen heiligen Tag störte, lag in ihr selber. Schamvoll bekümmert starrte sie in das Wasser, das auf der Oberfläche so klar und mit fröhlichen, kleinen goldenen Sonnenblitzen geschmückt erschien und tief unten angefüllt war mit den faulenden Überresten der Vegetation vergangener Jahre.
Die Freundschaft zwischen Agathe Heidling und Eugenie Wutrow bestand schon sehr lange – seitdem sie eines Morgens mit weißen Schürzchen und neuen Tafeln und Fibelbüchern zum ersten Mal in die Schule gebracht wurden und ihre Plätze nebeneinander angewiesen bekamen. Da hatten sie die Bonbons aus ihren Zuckerdüten getauscht, und nun waren sie Freundinnen. Ihre beiden Mamas schickten sie in diese kleine vornehme Privatschule, denn in der staatlichen höheren Töchterschule kamen doch immerhin Kinder von allerlei Leuten zusammen, und sie konnten leicht ein hässliches Wort oder gewöhnliche Manieren mit nach Haus bringen.
Entweder holte Agathe die kleine Wutrow zum Schulweg ab, oder Eugenie klingelte um dreiviertel auf acht Uhr bei Heidlings, wozu sie sich auf die Zehen stellen musste, bis Mama Heidling ein Strickchen an den gelben Messingring des Glockenzuges band. Auch in ihren Freistunden steckten die Mädelchen beständig zusammen. Am liebsten war Agathe bei Eugenie, dort blieben sie ungestörter mit ihren Puppen und Bildchen und Seidenflöckchen, mit ihren Geheimnissen und ihrem endlosen Gezwitscher und Gekicher.
Das große alte Kaufmannshaus, welches Eugenies Eltern gehörte, barg eine Unmenge von Ecken und Winkeln, köstlich zum Spielen und um sich zu verstecken. Dunkle Korridore gab es da, in denen auch bei Tage einsame Gasflammen brannten und dünnbeinige Kommis eilig an den kleinen Mädchen vorüberstrichen – hinter vergitterten, staubigen Fenstern das Komptoir, und darin saß Herr Wutrow, ein verschrumpftes, taubes, grobes Männchen, auf einem hohen Drehstuhl – ein Hof mit ungeheuren leeren Kisten und graue, schmutzige Hintergebäude, angefüllt mit einer Schar Arbeiter und Arbeiterinnen, die in kahlen Räumen Zigarren drehten. Die Fabrik – das Komptoir – die Korridore – alles roch nach Tabak. Der süßlich-scharfe Geruch drang sogar bis in die großen Wohnzimmer des Vorderhauses. Hier ließ Frau Wutrow beständig das Parquett bohnern und die Spiegelscheiben der Fenster putzen, deshalb war es immer kalt und zugig. Aber der Tabaksgeruch blieb trotzdem haften.
Auf Agathe übte das Haus, in dem alles ganz anders war als bei ihren Eltern, eine geheimnisvolle Anziehung aus. Sie fürchtete sich vor den Kommis und den Arbeiterinnen und noch mehr vor Herrn Wutrow selbst, sie hatte eine instinktive Abneigung gegen Frau Wutrow, und mit Eugenie zankte sie sich sehr oft, lief dann schluchzend nach Haus und hasste ihre Freundin. Aber Eugenie holte sie immer wieder, und alles blieb wie zuvor. Eugenie konnte niemals ordentlich spielen. Sie hatte ihre Puppen nicht wirklich lieb und glaubte nicht, dass es eine Puppensprache gäbe, in der Holdewina, die große mit dem Porzellankopf, und Käthchen, das Wickelkind, munter zu plaudern begannen, sobald ihre kleinen Mütter außer Hörweite waren.
Agathe verdankte ihrer Freundin verschiedene Strafpredigten, weil Eugenie sie verführte, mit ihr in allerlei Nebengassen der Stadt herumzubummeln, an den Klingeln zu reißen und dann fortzulaufen, alten Damen, die an Parterrefenstern hinter Blumentöpfen saßen, die Zunge herauszustecken und sich mit Schuljungen zu unterhalten.
Am liebsten hielt Eugenie sich in der Fabrik auf. Sie schlich sich an die Männer heran und streichelte die schmutzigen Röcke der Arbeiterinnen und steckte ihnen Kuchen und Äpfel zu, die sie heimlich aus ihrer Mutter Speisekammer holte, damit die Mädchen ihr dafür Geschichten erzählten. Beständig mussten die Aufseher sie fortjagen – im Umsehen war sie wieder da.
Ja – und Eugenie wusste auch, dass Walter eine Braut hätte, mit der er sich küsste, und wenn die Lehrer das hörten, käme er vor die Konferenz. Meta Hille aus der dritten Klasse wäre sein Schatz – na so eine! – Ja – ja – ja – ganz gewiss, wahrhaftig!!
Hatte Eugenie etwas Derartiges herausgespürt, so schüttelte sich ihr kleines, schlankes Körperchen vor Vergnügen, sie kniff ihre grauen Augen zusammen und blinzelte triumphierend über ihr hübsches Näschen hinweg.
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