Gabriele Bärtels
Eine Minute
Roman
Berlin, 2021, Gabriele Bärtels
Umschlaggestaltung Gabriele Bärtels
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Alle Rechte vorbehalten
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Nachwort
Heute Morgen war ich wieder mit dem Hund beim Tierarzt. Wir müssen jetzt alle zwei Tage hin, um den Verband wechseln zu lassen, und um zu prüfen, ob sich an ihrem rechten Hinterlauf Druckstellen gebildet haben. Dieser Hinterlauf ist geschient, weil sie sich vor zehn Tagen im Gebüsch eine Glasscherbe eingetreten hat. Von dem Moment an, in dem ich diese breite, blutende Wunde entdeckte, war dieser Sonntag traumatisch verlaufen, aber Du wusstest nichts davon, denn Du warst wie jedes Wochenende nicht hier.
Es war der Tag, an dem ich ausziehen wollte. Schon am Abend zuvor hatte ich zusammen mit einem Freund mein Bett in die neue Wohnung geschafft, die ich morgens erst gemietet hatte, ein absoluter Glücksfall. Ich wollte weg sein, wenn Du wie gewöhnlich am Sonntagmittag heimkehren würdest.
Wochenlang hatte ich nach einer Unterkunft gesucht, es ist nicht einfach für eine Frau knapp unter sechzig, die eine lächerliche Einkommenssteuererklärung vorzuweisen hat, dazu einen großen Hund, den sie ungern aus einem Haus mit Garten in eine winzige Etagenwohnung verpflanzen möchte.
Ich klapperte wie ein Haufen Kleiderbügel, seit ich entschieden hatte, mich lieber um meine ganze Existenz zu bringen, als auch nur eine Nacht länger als nötig mit Dir unter einem Dach zu hausen. Und Du glaubtest immer noch, ich würde es nicht wagen, weil ich es die ganzen Jahre nicht gewagt habe. Gleichzeitig wolltest Du verzweifelt, dass ich endlich abhaue.
Der Unfall des Hundes machte meine Absichten zunichte.
Für die Verbandswechsel erscheine ich gewöhnlich eine Viertelstunde vor Praxisöffnung, da ist der Parkplatz noch leer, und ich kann darauf hoffen, die erste zu sein. Doch dann entdecke ich ein altes Fahrrad, das am Geländer lehnt, welches zur Treppe ins Souterrain hinunterführt. Unten auf dem Treppenabsatz wartet offenbar schon jemand darauf, dass in der Praxis die Lichter angehen.
Gewöhnlich springt mein Hund ja aus dem Auto, aber seit zehn Tagen muss ich das Tier hinein- und hinausheben und alle Stufen hinuntertragen, denn sie darf keinerlei unkontrollierte Bewegungen machen. Ich schleppe sie also zum Treppenabsatz, schaue hinab und entdecke die ältere Frau in Shorts, die auf der zweituntersten Stufe sitzt. Sie hält einen Katzenkorb auf dem Schoß und hat stämmige, blaugeäderte, weiße, behaarte Beine. Sie blickt zu mir hoch, und in ihren Augen lodert der gleiche Schmerz, der auch mich immer noch im Griff hält, obwohl ich in den vergangenen Tagen viel Ruhe gehabt habe.
Nachdem ich meinen Hund vorsichtig auf sein Bett abgelegt und mich selbst auf die oberste Treppenstufe in den Staub gesetzt habe, halte ich sie am Halsband fest. Sie darf nicht aufspringen und schon gar nicht nach der Katze geifern, die sich wenige Stufen weiter unten in ihrer Box vollkommen still verhält.
Ihre Besitzerin mag Mitte sechzig sein, ihr herausgewachsener Haarschnitt und ihre schwitzende, kurzärmelige Erscheinung wirken ärmlich und farblos und teilen jedem Betrachter mit, dass sie nichts mehr auf ihr Äußeres gibt.
Aber die Katze. „Sie ist fünfzehn“, flüstert sie, erstickt fast dabei. Ihr zitterndes Kinn kämpft wild darum, nicht loszulassen.
„Sie wiegt nur noch zwei Kilo. Früher waren es fünf. Sie erbricht sich dauernd. Der Tierarzt sagt, man sollte sie nicht länger am Leben halten. Vielleicht kann er ihr doch noch eine Spritze geben, dass es wenigstens vier Wochen weitergeht…“
Jetzt klappert sie doch am ganzen, fülligen Körper. Tränen pressen sich gegen ihren Willen aus den geröteten Augen.
Ich bin überzeugt, sie hat niemanden mehr, außer dieser todkranken, alten Katze, die wahrscheinlich schon zu lange lebt.
Sie hält ihren Riesenschmerz nur schwer zurück. „Ich könnte mit ihr noch in die Uniklinik, aber ich hab doch kein Geld“, stößt sie stockend hervor.
Wir sind ganz allein hier im Staub dieser Treppe zum Souterrain. Es ist wie ein Beichtstuhl aus Betonwänden. Die Katze kann ich nicht sehen, aber mein Hund zappelte auf ihrem Bett und will unbedingt zu ihr hinunter. Ich halte sie eisern fest.
Die Frau erkundigt sich höflich nach ihrem geschienten Bein, doch weder sie noch ich können ein sachliches Gespräch führen.
„Es gibt keinen Trost“, sage ich statt einer Antwort, weil das die Wahrheit und in diesem Augenblick die einzige Realität dieser Frau ist. „Es ist schrecklich, was Sie jetzt entscheiden müssen.“
Sie krampft die Hände um die Katzenbox aus Plastik und erkennt in meinen Augen, dass ich genauso beschissen dran bin wie sie, auch wenn ich geschminkt und geschmackvoll angezogen bin.
Wenige Minuten später wird die Praxis von innen aufgeschlossen. Im Wartezimmer setze ich mich auf den Boden neben meinen Hund und schaue auf die Tür zum Behandlungszimmer, hinter der die Frau mit ihrem Katzenkorb verschwunden ist.
Man kann den Tierarzt leise murmeln hören, und nur, wer weiß, was in diesem Zimmer vor sich geht, mag vereinzelt das verkrampfte Schluchzen einer Frau vernehmen. Hinter mir treten zwei Leute ins Wartezimmer, sie stellen einen Käfig mit einem Kaninchen auf den Empfangstresen und scherzen mit der Tierarzthelferin. Dann geht die Tür zum Behandlungszimmer auf, die Frau tritt heraus, und der Transportkorb, den sie trägt, ist zu leicht, als dass die Katze sich noch darin befinden kann.
Die Frau stellt sich dann hinter den beiden Leuten an, denn sie muss das Einschläfern ja noch bezahlen. Ich wechsele einen offenen Blick mit ihr. Sie schüttelt den Kopf und senkt dann die Lider. Ihre Schultern beben, sie würgt Laute herunter. Die Tierarzthelferin flüstert, dass es ihr Leid tut. Nachdem die Frau die PIN-Nummer ihrer EC-Karte eingegeben hat, verabschiedet sie sich höflich und geht schnell an mir vorbei hinaus, die Treppe hoch. Zuletzt sehe ich noch ihre weißgelblichen Füße in den Wandersandalen.
Über den Tresen schaut man in weitere Praxisräume. Der Hinterkopf des Tierarztes taucht auf, eine Kühlschranktür klappt auf- und zu. Die Frau radelt jetzt sicher schon mit dem Katzenkorb auf dem Gepäckträger durch die Seitenstraßen, blind für die blühenden Bäume und das sprießende Grün dieser warmen Maitage.
Dann werde ich aufgerufen und muss mit meiner Patientin zum Verbandswechsel.
Jetzt liegt mein Hund in ihrer Sofa-Ecke und schaut mich an, ohne sich zu rühren. Sie kann mir nicht sagen, welche Schmerzen sie hat. Brennend wünsche ich mir mein Viech von gestern zurück: rauflustig, rennlustig, jagdlustig und verfressen. Wenn ich mit ihr auf die Straße ging, wedelte ihr ganzer Körper erfreut jeden Nachbarn an, den wir trafen. Jetzt weiß ich kaum, wie ich sie anfassen soll, damit nur nicht die genähte Sehne riss oder das genähte Fleisch. Ich setze mich neben sie und massiere ihre Ohren. Sie seufzt vor Wohlbehagen. Ihre Augen sind rotgerändert. Endlich lässt sie den Kopf sinken, schnauft kräftig aus und schließt die Lider.
Seit Du weg bist, fahre ich alle zwei Tage zum Tierarzt, manchmal jeden Tag. Vorher zittern meine Knie vor Aufregung. Selbst auf der kurzen Fahrtstrecke könnte es geschehen, dass ich scharf bremsen muss, und der Hund mit der zusammengenähten Sehne darf doch nicht durchgeschaukelt werden. Haben wir es wieder heil nach Hause geschafft, so breite ich ihr das Bett im Schatten aus, lege sie dort ab und lasse sie ihr Futter im Liegen fressen.
Fast den ganzen Tag sitze ich neben ihr auf der Terrasse des Hauses, das Du und ich zusammen gebaut haben, und schaue auf den breiten Fluss, an dessen Ufer wir dieses Glücksgrundstück zufällig entdeckt hatten. Der Hund rührt sich kaum. Mein weiter Blick auf Himmel, Wasser und Wald wird nur von Ligusterhecken, Kastanienbäumen und Staudenbeeten begrenzt. Ich höre kein Auto, aber den Kuckuck, der im Kirschbaum des Nachbarn sitzt. Ich sehe keine fassadenhohen Werbeplakate, keine schnell vorbeiwischenden Farben und Konturen, sondern verfolge einen einzelnen Fischreiher, wie er vorbeisegelt. Ein Paradies, das sagt jeder, der die paar Kilometer aus dem Stadtzentrum zu uns hinausfährt.
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