Für die Ohren gab es diese Privatsphäre nicht. Jedes Prusten, alle Gartenarbeitsgeräusche, Geschirrklappern, Radiostimmen, Handy-Klingeln, Kinderlachen und Hundegebell drang durch den Sichtschutz hindurch. Wasserblick hatte kaum jemand, Wasserzugang schon gar nicht. Die drei Segler unter diesen Vereinsmitgliedern mussten ihre Liegeplätze in der nahegelegenen Marina mieten, anstatt vom eigenen Badesteg in Badehosen direkt an Bord zu springen.
Doch auch hier lebten einige Leute ganzjährig auf engstem Raum, dekoriert mit Porzellanelefanten, bunten Plastikwindspielen und Led-Lichterketten, oder so karg wie der Lebenskünstler Krücke, nun in den Fünfzigern, der es bis jetzt geschafft hatte, unter allen Radaren staatlicher Einrichtungen wie Finanz- und Arbeitsämtern hindurchzusegeln. Sein Gärtchen hatte er mit Kieseln ausgelegt, so dass alles ordentlich aussah, es aber nichts zu gießen und zu mähen gab.
Krücke verdiente sein Geld schwarz mit PC-Nothilfe und hatte sich durch reine Mundpropaganda einen großen Kundenkreis geschaffen. Wann immer an diesem Stadtrand ein Laptop-Bildschirm schwarz wurde, oder sich ein Trojaner eingeschlichen hatte, rückte er auf dem Fahrrad an, eine dunkle Gestalt in einer undefinierbarfarbenen, an den Schultern ausgeblichenen Jacke. Er schob dann den nervösen Kunden zur Seite, ließ sich vor dem Schad-Computer nieder, legte dabei nicht einmal den Rucksack ab, geschweige denn die Jacke. Seine Finger streiften über die Tastatur wie ein Pianist, und er versenkte sich wortlos in das digitale Problem. Er erklärte nichts, wollte auch nichts trinken, tippte und enterte, dünstete kalten Zigarettenrauch aus, schob irgendwann - manchmal nach Stunden erst - den Stuhl zurück und sagte zu dem verzweifelten Kunden, der schon am Fenster stand und sich hinausstürzen wollte, falls er nie mehr ins Internet kommen sollte: ¨Funktioniert wieder.“
Der gerettete Kunde zahlte, was Krücke forderte, und es war nie unverschämt viel. Dann rückte der als Engel Gepriesene ab, zündete sich draußen eine Selbstgedrehte an, verschwand in der tiefen Nacht, in der er am liebsten lebte, radelte zurück ins Land der Sonne, schlich durch die Wege, schloss sein Gartentor auf, betrat sein Ein-Zimmer-Häuschen und schob das Geld in die Schachtel zu den anderen Scheinen. Darauf katapultierte er sich bis in die Morgenstunden mit einem Computerspiel ins fünfzigste Jahrtausend nach Christi.
Man sah ihn frühestens mittags, er war immer blass. Er hatte keine Ahnung, dass Carola ein Auge auf ihn geworfen hatte.
Diese sah noch dem davonbrausenden Auto der beiden Ex-Vereinsmitgliedern hinterher und schimpfte: ¨Bloß gut, dass der nie wieder auftaucht. ¨ Sie setzte ihr Hündchen wieder ab: ¨Hier, Mimi, lauf.¨ Dann wandte sie sich zu den Müllcontainern, vor denen noch ihre Eimer stehen mussten, doch die waren verschwunden.
¨Wer hat ...!¨ zischte sie, doch der Parkplatz war menschenleer. Carola meinte trotzdem, hinter jedem Kofferraum ein gehässiges Augenpaar aufblitzen zu sehen. Sie schob den gelben Wertstoffcontainer auf - und darin lagen sie. Auf den Zehenspitzen angelte sie ihre Eimer wieder heraus, ihre Jacke bekam einen Schmierflecken auf der Brust. ¨Das war der Ronald.¨ Sie beugte sich zu Mimi herab: ¨Eine Brut ist das, die hier lebt!¨
Mimi krümmte sich. Und auf einmal kam hinten herausgesickert, was auf dem Gassigang noch verstopft gewesen war: ein orangegelber, nicht besonders großer, aber sehr flüssiger Klecks Hundescheiße, direkt vor dem Flaschencontainer.
¨Das geschieht ihm nur recht!¨ fauchte Carola, lockte Mimi von der Bescherung weg und verschwand mit ihren Eimern im Barschweg.
Im Plötzenweg, wo Krücke wohnte, kam Carola nie vorbei. Sie hatte keinen Grund, dort entlangzulaufen, und außerdem wollte sie diesem Schotten möglichst nicht begegnen. Sie traf Krücke also nur selten einmal auf dem Parkplatz, aber er stieg ja nicht vom Rad ab, was er laut Satzung hätte tun sollen, sondern brauste einfach durch. Das Geräusch seiner quietschenden Bremsen war für sie unverwechselbar.
Krücke selbst kannte sie allerdings kaum, nur vom Sehen, und aus der einzigen Vereinsversammlung, die jedes Jahr im Herbst im Festraum einer nahegelegenen Pizzeria abgehalten wurde. Da hatte sie Zeit gehabt, sein blasses Gesicht näher zu studieren. Er hatte immer einen dunklen Schatten um Kinn und Wangen. Bestimmt war auch seine Brust behaart. Seine hellen Augen schauten selten jemanden direkt an. Auf dem Tisch vor ihm bröselte Tabak, denn während er gelangweilt dem Kassenbericht lauschte wie alle, drehte er sich schon die Kippe für danach.
Sie glaubte nicht, dass er überhaupt ihren Namen kannte, denn es gab außer dieser Sitzung wenig Vereinsleben, kein Versammlungshaus, nur den Vorsitzenden Werner, den Kassenwart und eine Handvoll anderer Ehrenamtlicher, die sich um den laufenden Betrieb kümmerten. Und das Sommerfest auf dem Rasenrondell Ende August, aber da wäre Carola nie hingegangen. Zu viele Feinde.
Wie Krücke zu Hunden stand, wusste sie nicht, aber sie bildete sich gerne ein, dass er ihre Mimi zärtlich hochnehmen und an seine Brust drücken würde. Hinter seiner Blässe und den Augenringen musste ein nachdenklicher Mann stecken, der sich auf dem Klo womöglich freiwillig hinsetzte, anstatt die Brille vollzupinkeln.
Außerdem meinte sie, Ähnlichkeiten festzustellen zwischen ihm und ihrer ersten, großen Liebe, der sie als vierzehnjährige Austauschschülerin in England begegnet war. Christopher hatte er geheißen, ein großer, ruhiger, sanfter, freundlicher Schüler, der nebenbei Aquarelle malte, von denen sie zwei noch besaß. Ihre Austauschfamilie rückte in den Hintergrund. Ohne viel zu reden, waren sie jeden Tag nach der Schule Hand in Hand durch die Stadt gelaufen und hatten sich hinter Büschen innigst geküsst. Das Schicksal hatte sie auseinandergetrieben: Mit einer tränenreichen Szene auf einem Bahnsteig der Victoria Station endeten die Ferien. Sie schrieben einander noch monatelang glühende Briefe, aber schon das Telefonieren war damals viel zu teuer, also starb die Liebe in handverzierten Briefumschlägen, bevor sie überhaupt zu erstem Sex führen konnte.
Ein ähnliches Verliebtheitsglück war ihr danach nie mehr begegnet. Schmerz ja, aber der hatte sich deutlich anders angefühlt als das süße Sehnen nach dem englischen Christopher in der Ferne. In ihrem letzten Job als Verwaltungsfachangestellte hatte sie ein Verhältnis mit ihrem Chef gehabt, doch als sie durchblicken ließ, dass sie sich noch Hoffnungen auf ein Kind machte, hatte er ständig Ausreden, sie nicht mehr zu treffen. Da war ihr die kleine Erbschaft gerade recht gekommen - sie kündigte.
Als sich graue Strähnen in ihr blondes Haar mischten, erste Hitzewellen der beginnenden Wechseljahre ihren Körper erröten und schwitzen ließen, hatte sie sich zwar geärgert, aber auch erleichtert geseufzt und sich geschworen, nie wieder einen BH anzuziehen, der scheuerte und kniff, und sich keine Sorgen mehr um ihr alterndes Gesicht zu machen. Was ihr ewig nicht gelungen war, gelang ihr jetzt, ohne dass sie sich erklären konnte, weshalb: Sie machte sich frei davon, einem Mann gefallen zu wollen, und stellte fest, dass das ungeheuer entlastend wirkte. Das bisschen Sex fehlte ihr nicht wirklich.
Dass die Parzelle 11 auf dem Land der Sonne e. V. zu verkaufen war, hatte sie auf einem Radausflug entlang des Flusses im Vorbeifahren entdeckt - es hing ein laminierter Zettel am Parkplatztor. Als sie das Gelände betrat, blühte gerade der Zierapfelbaum hinter den Müllcontainern, und die Hecken begannen zu sprießen, und sie war ganz verzaubert von dem zugewachsenen Gärtchen mit der dunkelgrünen Holzhütte, welche Waschbecken, Toilette, Küchenzeile und Wohnraum enthielt. Der Knöterich wuchs schon in das einzige, große Fenster. Ein Sonnenstrahl fiel in das Vogelbad aus rostigem Eisen, das auf der schiefen Terrasse stand, und auf dem Dach prangte eine grün bemooste Satellitenschüssel.
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