Werner leistete Überzeugungsarbeit nach allen Seiten und redete nach der erfolgreich verlaufenden Abstimmung in der Vereinssitzung nicht mehr über seine weitere Planung, und dass die Handwerker bereits bestellt waren.
Waren die Wege dann aufgerissen, war es ohnehin zu spät für neue Einwände, nicht aber für neuen Protest, wie etwa den von Frau Pieske, der alleinstehenden Greisin, die ganzjährig einen Fuchspelz um den faltigen Nacken trug und einen ausgesprochen kratzbürstigen Waschbären an der Leine führte, der mit seinen zwanzig Jahren ähnlich gebrechlich war wie sie, und sie noch immer dafür hasste, dass sie ihn als Baby am Flussufer gefunden hatte, mit einem gebrochenen Bein. Sie hatte ihn zum Tierarzt geschleppt, das Bein schienen lassen und ihn aufgepäppelt. Lieber wäre er nach seiner Genesung wieder ausgewildert worden, aber die Frau hatte ihn nicht gefragt.
Sie behauptete seitdem, der Waschbär sei zahm und schleppte ihn überall mit hin. Ihre Arme waren immer voller Krallenkratzer, die jetzt, da ihre Haut dünn und trocken geworden war, nicht mehr gut heilen wollten.
Während der Baumaßnahmen beschimpfte sie den Vereinsvorsitzenden hemmungslos. ¨Das schöne Pflaster! Das hat mein Mann noch mit verlegt, da waren Sie noch gar nicht auf der Welt! Damals gab es Gemeinsinn. Alle haben mit angefasst! Man brauchte keine teuren Handwerker zu bestellen, die die Vereinskasse belasten! ¨ Mit ihren dünnen, rot-gestrichelten Ärmchen beschrieb sie einen großen Bogen. Ihre Stimme war immer etwas zu schrill, zu scharf, zu laut.
Es hatte keinen Sinn, ihr von den Segnungen des Internets zu erzählen, das es in der Stadt seit zwanzig Jahren überall gab, nur hier nicht, in der Wochenendhaussiedlung. So fasste Werner Frau Pieske am Arm, was sie sehr gern hatte, wie er wusste, und dröhnte, damit sie ihn gut verstand: ¨Frau Pieske, alles muss mal erneuert werden. Wird schon wieder! ¨
Als der frühere Vorsitzenden ihm damals die Geschäfte übergab, hatte er mit der Hand auf den Akten gesagt: ¨Das Wichtigste, was Du brauchst, ist Taubheit. Alle werden Dir etwas einflüstern wollen. Noch jeder Streit über Abstimmungsergebnisse hat sich irgendwann von selbst gelegt. Bloß dem Protestfeuer nie neue Nahrung geben, nichts allzu detailreich erklären und sich an keinem Klatsch beteiligen! ¨ So gewöhnte sich der Verein über hundert Jahre eigentlich an alles, so verfuhr auch Werner in seiner Amtszeit.
Es gab nur einen Streitpunkt, der seit Vereinsgründung nicht aus der Welt geschafft werden konnte. Das war der Zank zwischen den Hundebesitzern, die ihre Lieblinge an die Wegränder kacken ließen, und allen anderen Vereinsmitgliedern. Er flackerte mindestens jeden fünften Sommer wieder auf, mit wechselnden Hunden, Haltern und Empörten. Nur einer spielte das ganze Jahrhundert hindurch immer eine Rolle, und das war der jeweils amtierende Vereinsgärtner.
Laut Satzung gehörten Hunde auf den öffentlichen Wegen des Vereinsgeländes und auf dem Parkplatz an die Leine. Das war eine vernünftige Regelung, die auch die Halter einsahen. Aber wenn einer von seinem Auto zu seiner Parzelle nur zwanzig Meter zu laufen hatte, beanspruchte er still eine Ausnahme für sich, denn er hatte ja noch Einkäufe zu schleppen, und der Hund war alt und sprang niemanden an. Jeder, der wollte, fand so eine Ausnahme für sich.
Also wurde gelegentlich doch eine alte Frau angesprungen oder ein Mann mit Schubkarre angekläfft. Für sich genommen war der Anlass meistens nichtig, doch weil es sonst kaum ein Thema gab, das man mit maximal vielen Vereinsmitgliedern besprechen konnte, wurde er gerne aufgebauscht. Die Auseinandersetzung gewann dann schnell an Dynamik, riss alte Wunden wieder auf, verlief wie eine Aktienkurve in einem Börsensturm, manchmal mit mehreren zackigen Ausschlägen nach oben.
Kaum, dass Werner die Fenster seiner Laube geöffnet hatte, ließ der Regen nach. Aus den Fallrohren hatte das Wasser jede Menge Herbstblätter aus dem letzten Jahr herausgepresst. Als Erstes würde Werner die Leiter holen und die Dachrinnen reinigen.
Aus den Bächen auf dem Parkplatz wurden Rinnsale, die versickerten. Da nahte eine Hundebesitzerin, gefolgt von ihrem Schoßhündchen, beide wichen den Pfützen aus. Die Frau trug zwei Eimer mit Abfällen. Sie hatte die Absicht, sie auszuleeren und dann am Parkplatztor stehen zu lassen, bis sie vom Gassigang zurück war.
Carola war Mitte vierzig und eine von etwa zwanzig Parteien, die dauerhaft im Land der Sonne wohnten. Sie gehörte zu den Damen, die alles wachsen ließen - die Haare unter den Armen, am Kinn, auf dem Kopf, das Unkraut auf ihren Blumenbeeten, den Knöterich an ihrer dunkelgrünen Laube, das Moos auf den Trittsteinen, die durch ihr winziges Gärtchen führten, in das kaum noch ein Sonnenstrahl drang.
Kein Name klebte an ihrer Gartenpforte, kein Briefkasten. Irgendwann in ihrem Leben hatte sie sich angewöhnt, auf Angriff mit Totalverweigerung zu reagieren, und konnte diese Verhaltensweise nicht mehr ablegen. Damit sie sich angesichts ihrer wenigen Kontakte auf der Simkarte ihres Smartphones nicht selbst als Menschenfeind bezeichnen musste, war sie dazu übergegangen, pauschal die Hässlichkeit der Leute zu beklagen und mit stillem Trotz auf jede Zumutung zu reagieren. Möglich machte ihr das eine kleine Erbschaft, die sie, wenn sie äußerst sparsam wirtschaftete, bis an ihr Lebensende ernähren würde.
Ihre Parzelle hatte von drei Seiten Nachbarn und diese ärgerten sich darüber, dass Carola den Giersch unter ihren Büschen nicht ausriss. Dieses nahezu unausrottbare Unkraut kroch unaufhaltsam in ihre Gärten, und sie brachten Stunden damit zu, die elfenbeinfarbenen, zerbrechlichen Wurzeln aus der Erde zu graben, um dem Vormarsch Einhalt zu gebieten. Man hatte Frau Birkenhuhn darauf mehrfach angesprochen, aber sie schüttelte nur das ungekämmte Haar vor ihr Gesicht und ging wortlos weiter.
Carolas weite Leinenjacken, unter denen ungebremst ihre Brüste schaukelten, hatten Schweißränder, und eigentlich passte der modisch cremefarbene Chihuahua, der hinter ihr her trippelte, gar nicht zu ihrer ¨ extreme natural expression ¨.
So hatte Ronald es ausgedrückt, da sprach er hinter ihrem Rücken noch verhältnismäßig freundlich über sie.
Ronald war der aktuelle Vereinsgärtner, ein drahtiger, kaum ein Meter siebzig großer Schotte, der sich als Jungmann auf einer Rucksackreise in ein Mädchen verliebt hatte und in dieser Großstadt kleben geblieben war, ohne je zu lernen, ordentlich deutsch zu sprechen. Das lag vor allem daran, dass jeder, dem er in seiner späteren Laufbahn als Gärtner begegnet war, lieber sein dürftiges Englisch an ihm ausprobieren wollte, als Ronalds deutschem Gestottere zuzuhören.
Davon abgesehen war er bestens angepasst. Das verträumte Mädchen, das ihn hierhergelockt hatte, war längst Geschichte, er feierte nun mit einem ganz anderen Typ Frau Silberhochzeit. Sein Rentnerdasein trat er mit sechzig an, weil das Kreuz nicht mehr wollte. Seine Laube hatte er über die Jahre vergrößert und winterfest gemacht, denn er war sich mit seiner Frau einig, dass sie im Land der Sonne alt werden wollten, und nicht im sechsten Stock des Mietshauses, in dem sie wohnten.
Auf dem Vereinsgelände war er zuständig für die Pflege der vereinseigenen Flächen: der Badewiese, zweier Rasenstücke, Parkplatz, Müllcontainer und mehrerer Hecken. Das kostete ein paar Stunden Arbeit in der Woche. Mit dem Entgelt besserte er seine Rente auf.
Jeder Parzellenbesitzer musste die ungepflasterte Seite der Wege pflegen, die an seinem Grundstück entlangführten. Im Plötzenweg, wo auch Ronald mit seiner Frau in einem schmucken Häuschen residierte, waren sie unkrautfrei, und ein Rechen hatte im Sand saubere Linien gezogen. Und weil die restlichen Abschnitte des Plötzenweges mit ihren herabgefallenen Rosenblättern und verklebten Pappelsamen gegen die von Ronald furchtbar aussahen, gaben sich irgendwann auch die Nachbarn mehr Mühe.
Читать дальше