Franz nahm den Knaben auf den Arm und lief ins Dorf, dort befahl er ein paar von seinen Leuten, die Toten zu holen. Der Kaplan weigerte sich, sie auf dem Friedhof zu bestatten, man sollte erst den Gendarm verständigen.
«Dann nehmen wir eben beide mit in die Stadt und melden die Bluttat der Polizei.» Der Hilfspriester erhob keine Einwande, war froh, sie los zu sein. Mit Fahrenden gab es immer nur Ärger.
Holderlind dachte nicht im Traum daran, die Behörde zu informieren. Sie waren sowieso nirgends gemeldet, wer sollte sie vermissen?
Am Fuße des St. Annaberges schlugen sie ihr Lager auf. Spät abends begruben sie die beiden unweit der ersten Kreuzstation, in ungeweihter Erde, aber zumindest an einem heiligen Ort. Sie beteten gemeinsam das Kaddisch und das Vaterunser.
Die Musikanten sangen andächtig einige stimmungsvolle Balladen.
Am nächsten Morgen, Fronleichnam, spielten sie gottgefällige Festtagsmusik vor ihren Zelten. Leute, die auf den Kalvarienberg pilgerten, blieben stehen und hörten ihnen zu. Niemand nahm Anstoß an der jeweiligen Liedankündigung: «Für Joseph und Elsa.»
Die Holderlinds versorgten den kleine Fedor wie ein eigenes Kind. Der bildungshungrige fünfjährige Junge lernte fleißig Lesen und Schreiben. Mangels anderer Bücher las er täglich in der Bibel, kannte bald vieles auswendig.
Franz beobachtete den Heranwachsenden. Alles Praktische, der Umgang mit den Tieren und Menschen gelang Fedor blendend, aber er war kein Schauspieler, ein Tollpatsch auf der Bühne.
Der Knabe, einst ein exzellenter Sopran, brummte nach dem Stimmbruch nur noch, taugte nicht einmal mehr zum Sänger.
Mooreichen 1834 – Fedor
Mit lauter Musik und radschlagenden Artisten zog die Zirkus- und Musikantentruppe am späten Nachmittag, dem ersten Samstag im September 1834, in den oberschlesischen Gutshof Mooreichen ein. Vor der großen Freitreppe stellten sie sich auf, fiedelten ein lustiges Tanzlied und sangen dazu.
«He, was soll der Lärm? Macht, dass ihr fortkommt, bei uns gibt es nichts zu holen!», brüllte Wilhelm Gustav von Streselitz hinunter.
«Meine Verehrung, Herr Baron, wir möchten nur eine kleine Rast einlegen, wir brauchen etwas Wasser für die Tiere.»
Ein Mann in schwarzem Frack und rotem Zylinder verbeugte sich. Das auf seiner Schulter sitzende Äffchen, hüpfte herab und zog ebenfalls sein Hütchen.
«Wilhelm Gustav, jetzt sei nicht so streng, schick sie zum Teich hinter dem Stall, da stören sie nicht.»
Die Baronin trat mit den drei Kindern aus der Tür.
«Ich wünsche dieses Gesindel nicht hier bei uns», Streselitz drehte sich provokativ zu seiner Frau um.
«Ach was, die tun doch nichts Frevelhaftes, schau, wie sich unsere Kinder freuen», nahm sie ihm den Wind aus den Segeln.
Die beiden Baronessen, Frederike vier und Luise sechs Jahre alt, flitzten die Treppen hinunter und tanzten zu der lustigen Melodie.
«Was bist denn du für ein niedliches Tierchen?» Luise bewunderte den kleinen Affen, der auf sie zugesprungen kam. Kreischte auf, als das Rhesusäffchen, ebenfalls in Frack und Zylinder, ihr am Rock emporsprang.
«Felix, nicht so wild, du erschreckst die Baronesse!», rügte der Zirkusdirektor seinen kleinen Freund und zog kurz am Kettchen. Das Äffchen vollführte einen Purzelbaum rückwärts und verbeugte sich abermals.
«Herr Vater, bitte lass sie dableiben», bettelten beide Mädchen.
Wilhelm Gustav´s Mutter, von allen nur die Gräfin genannt, trat aus dem Haus und klatschte mit. Sie hatte damals unter ihrem Stand den jungen adretten Baron, seinen Vater, geheiratet.
Streselitz gab auf: «Also gut, lasst euch vom Verwalter, das ist der mit dem Schlapphut, einen Platz am Weiher zuteilen. Bis morgen früh gestatte ich es euch, dort zu lagern, dann zieht ihr weiter.»
«Herzlichen Dank Herr Baron, dafür geben wir euch und eurem Gesinde heute Abend eine kleine Vorstellung.» Der Theaterdirektor verbeugte sich.
«Ja, schon in Ordnung, jetzt aber weiter mit euch!», Streselitz wandte sich um und scheuchte seine Familie ins Haus.
Aufgeregt und ungeduldig warteten die Kinder den ganzen Nachmittag, auf die versprochene Abendvorstellung der Spielleute.
Eine mit Seilen abgespannte Manege und einer kleinen Theaterbühne, mit vielen bunten Fähnchen und einigen Bänken, die der Baron als seine eigene Gartenbestuhlung erkannte, empfing die Besucher.
Er hatte dem Verwalter die Erlaubnis erteilt, dass alle Bediensteten, die nicht dringend gebraucht wurden, daran teilnehmen durften.
Musik, Theater und akrobatische Vorführungen, ein abwechslungsreiches Programm hatte die Truppe auf die Beine gestellt. Zum Finale sangen alle vierzehn Mitspieler gemeinsam das Lied:
Alleweil ein wenig lustig,
alleweil ein wenig durstig,
alleweil ein wenig Geld im Sack,
alleweil ein wenig Schnupftabak,
allzeit so, so!
Man rede, was man will,
ich aber schweig fein still!
Alleweil ein wenig Geld im Sack,
alleweil ein wenig Schnupftabak,
allzeit so, so! ...
«Fedor – sofort aufhören!», schrie der Impresario einen jungen Mann an, der durch sein schräges Gebrumme auffiel und verwies ihn der Manege.
«Entschuldigung Herr Baron, aber der Fedor trifft leider immer die falschen Töne.»
Streselitz lachte und klatschte: «Wäre vielleicht ein besserer Schweinehirte geworden, denn ein Sänger.»
«Da habt ihr Recht! Ich lasse euch den Kerl für zwei Taler hier. Mit Tieren fing er bisher wenig an, aber er liest und schreibt ordentlich. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe und lernt alles im Handumdrehen, nur nicht das Singen», lachte Holderlind.
Streselitz betrachtete den jungen Mann näher, überlegte still für sich: Er ist groß und kräftig, kann bestimmt fest zupacken, außerdem strahlt er einen gutmütigen Blick aus.
Der Prinzipal der Truppe setzt hinzu: «Fedor ist uns quasi in den Schoss gefallen. Wir fanden den Dreijährigen vor Jahren am Wegesrand neben seinen toten Eltern. Unsere Frauen haben sich des armen Würmleins angenommen. Nachforschungen haben ergeben, dass seine Leute, eingewanderte Siedler aus dem Salzburger Land, Straßenräubern zum Opfer gefallen sind. Niemand wollte den Knaben, und so wuchs er bei uns auf.»
Er verschwieg allerdings, dass er die Familie gekannt hatte, ahnte, was geschehen war. Die Geschichte hatte er mit seiner Frau sowie den Gauklern und Musikanten abgesprochen.
«Fedor sieht überhaupt nicht jüdisch aus», meinte Judith damals, als sie den Kleinen auf dem Arm wiegte, «mit seinen hellen Haaren und den braunen Augen.»
Der Bub sollte es einmal besser haben, waren sich alle einig.
«Ich nehme ihn, die zwei Taler ist er mir wert.»
Überrascht schaute Holderlind den Baron an, damit hatte er nicht gerechnet.
«Ist es dein Wunsch bei uns zu bleiben, Fedor», fragte die Baronin den jungen Mann, der verunsichert von einem zum anderen guckte, nicht begreifend, dass er glattwegs verschachert wurde.
«Ja, glaube schon, ich weiß nicht, vielleicht – wenn ihr meint», stotterte Fedor.
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