Schon in Italien hatte man von der ungeheuren Geldverschwendung des Franzosenkönigs gehört, der ständig am Schloss und seinen Nebengebäuden etwas verändern, renovieren oder anbauen ließ. Inspiriert von großartigen Ideen verwirkliche er seine Wünsche. Da stünde er wohl seinem Urgroßvater, dem Sonnenkönig, in nichts nach. Interessant hatten die Italiener gefunden, dass die neuen Details sichtbar den barocken Stil verdrängten. Das würde ihnen, die ja gern aus Tradition das Klassische pflegten, nur zu Gute kommen. In Form von Aufträgen, versteht sich.
Jean und sein Lehrherr hatten über die unglaublichen Dimensionen der Schlossanlage nachgedacht und sich vorzustellen versucht, welche Funktion die besonderen Bauten im Einzelnen haben könnten. Sie hatten Zahlen geraten, wie groß die ständige Gesellschaft des Hofes und ihrer Bediensteten sein müsste, waren aber zu keinerlei befriedigendem Ergebnis gelangt.
Jeans Plan war, den Salon zum Atelier umzubauen. Dazu benötigte man rohe Dielenbretter, mit denen sich die wertvollen Parkettböden abdecken ließen und genügend schweres Tuch, um die prunkvoll gestalteten Wände zu schützen. Wenn er schon nicht, wie ihn die Erfahrung mit der Besorgungsliste gelehrt hatte, aus dem Corps des Schlosses herauskam, musste er eben innerhalb Versailles nach Material suchen. Er irrte durch die Gänge und fragte sich bei den zahlreichen Bediensteten, die im in den Fluren der Seitenflügel begegneten, nach den Werkstätten durch.
Man schickte ihn zum Wirtschaftsbau. Ein riesiges Gebäude mit unendlich vielen Lagern, Werkstätten und Küchen. Er schlug den Weg zu den Werkstätten ein und kam an riesigen Lagerräumen vorbei. Überwältigt von deren Größe und Ausstattung, sah er sich fasziniert um. Hier standen an die hundert gleiche, vergoldete Stühle, dort hingen riesige, goldglänzende bilderlose Rahmen und überall standen Kisten, in denen sich wertvolle, sorgsam in Stroh verpackte Kristallgläser, Porzellan und Silberwaren stapelten. Überall Geschäftigkeit. Lieferungen wurden ausgepackt, begutachtet und notiert, dann wieder verpackt und an einen anderen Platz getragen. Wie viel dabei wohl abhanden kam? Perfekte Organisation für unermesslichen Reichtum. Jean fragte nach der Holzwerkstatt. Man zeigte ihm den Weg zum Nebenflügel. Der Geruch von Holz und Sägegeräusche. Hier war er richtig. In der großen Halle, die mit unfertigen Möbelstücken, Holzteilen und Werkzeugen gefüllt war, traf er zunächst auf einen Glaser, welcher zersprungene Spiegelfacetten in einem vergoldeten Holzrahmen austauschte. Der riesige Spiegel war auf dem Arbeitstisch unterseits in dickem Wollstoff gelagert. Vorsichtig trennte der Meister mit einem Schneidwerkzeug jede Facette aus ihrer Fassung. Es mussten an die zweihundert einzelne Spiegel sein, welche den Rahmen ausfüllten. Ein Sprung und das Abbild war verwundet. Jean sah sich weiter um. Im anderen Teil der Halle befand sich eine Reparaturstätte für Möbel und Türen. Hier lagerte auch das meiste Holz. Natürlich handelte es sich nicht um grobes Bauholz, aber der Handwerker, der dort ein Türfeld schliff, könnte ihm vielleicht Auskunft geben, wo er geeigneteres Material fände. Er ging auf den Mann zu und sprach ihn an. Der Tischler hörte sich ungeduldig Jeans Anliegen an und verwies ihn unwirsch an das Sekretariat des Baumeisters. Irgendein Verantwortlicher sei dort immer zugegen und der könne ihm dann weiter helfen.
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* * *
Er hatte sich auf den letzten Metern genau überlegt, wie er anfangen wollte. Weil er nicht wusste, wer ihn dort erwartete, hatte sich für das Unverfänglichste entschieden. Er würde direkt mit der Aufzählung der benötigten Materialien beginnen. Würde er näher befragt, könnte er danach immer noch den Zweck für sein Anliegen preisgeben. Zaghaft klopfte Jean an die große Tür.
Es erklang ein lautes „Ja“ - die Tür blieb verschlossen. Das war eher ungewöhnlich für Versailles. Gab es hier denn keine Diener? Demnach musste der Beamte im Büro nur ein gering gestellter sein. Um so besser. Jean drückte beherzt die große Klinke und öffnete den schweren Türflügel. Zwei Männer, die um einen mit Papieren und Plänen bedeckten Tisch standen, sahen ihn an. Einer trug eine dunkle Alltagsperücke und einen bequemem, aber wertvollen Rock mit dunkler Kniehose. Er war noch jung. Der andere Herr schien viel älter. Seine üppigen, weißen Haare waren zu einem Zopf gebunden. Weil er keine Perücke trug, wirkte er sehr würdig. Seine Kleidung verbarg sich unter einer Art Umhang, der sehr verschmutzt aussah. Jean verbeugte sich leicht und stellte noch während des Aufrichtens seine Forderung. Er brauche soundsoviel Zoll grobe Dielenbretter und soundsoviel Zoll schweres Tuch.
Die beiden Herren sahen sich amüsiert an und der jüngere übernahm das Wort. „So, so,“ sagte er, „Bretter und Stoff? Wir sind hier aber nicht die Ausgabe.“ Er lachte freundlich. Augenblicklich war er war eingeschüchtert und fühlte sich fehl am Platze. Jean begann, sich rückwärs der Tür zu nähern.
„Wer schickt dich?“
Jetzt saß er in der Falle. Denn eigentlich war er ja gar nicht geschickt worden, er hatte ja gar keinen Auftrag von seinem Meister bekommen, die Idee war ja auf seinem eigenen Mist gewachsen und sein Herr wusste nichts davon. Jean begann zu stammeln, er musste ja etwas antworten. Der Versuch, das Geschehene irgendwie in einem Bericht zusammenzufassen, misslang. Zu verstehen waren lediglich Bruchstücke wie „Atelier“ und „Saal“, „mein Meister“, „Werkzeugtruhe“, „ Kratzer im Parkett“ und „Rettung wertvoller Wandgemälde“. Die beiden Herren taten hoch amüsiert.
Dann sprach der Ältere: “Wandgemälde? Von welchem Saal sprichst du?“
Der verdatterte Junge versuchte, die drei Säle und ihre Anordnung im Schloss zu beschreiben. Den Zuhörenden ging zumindest auf, dass sich die besagten Räume in dem Schlossflügel befanden, in dem sie selber und der Hofstaat residierten. Also unmittelbar am Zentrum der Macht.
„Wurden die Wandgemälde etwa von deinem Meister zerstört?“
Jean verneinte entschieden, denn das Gegenteil sei der Fall, sein Meister wolle diese retten und sie vor dem Staub seiner Arbeit schützen, das gleiche gelte auch für den wertvollen Boden, weswegen er ja die Bretter und die Vorhänge brauche. Der alte Herr überlegte, wenn dieser Meister im Zentrum der Macht arbeitete, dann müsste er ihn ja selber für irgendeine Aufgabe dorthin eingeteilt haben. Vielleicht ein Stukkateur? Er konnte sich nicht entsinnen. Die Räume im besagten Schlossflügel waren gerade erst renoviert worden.
“Wer ist denn dein Meister?“
Jean antwortete diesmal laut genug und mit stolz gerecktem Kinn:
„Der Bildhauer Monsieur Saly“.
Beide Herren schienen zu wissen, wer Saly war.
Der Jüngere Monsieur bemerkte:
„Schön, schön. Der Künstler, der meine Schwester in Gips fassen soll. Ein begabter Mann, wie man an seiner Kostprobe, der Büste des Mädchens, sehen konnte.“
Der Ältere sinnierte:
„Wenn auch etwas zu individuell, dennoch gleichsam idealistisch im Sinne von idealtypisch. Ein wirklich gelungenes Werk. Allerdings wird er es bei der Pompadour um vieles schwerer haben. Ich selber musste das bei mehreren Portraitversuchen feststellen. Die Ansprüche, die Ansprüche.“
Der junge Monsieur:
„Schließ- und endlich wird Madame höchstselbst diesen Bildhauer dort wohl einquartiert haben. Nahe beim Hofstaat, um nichts zu verpassen.“
Der Ältere:
„Sie mag nicht lange sitzen. Sie braucht dabei viel Zerstreuung.“
„Ja, wohl war, meine gnädige Schwester macht es niemandem leicht. Weißt du was, Junger Mann, wir helfen dir.“
Er wandte sich verschmitzt an den Weißhaarigen:
„Meinen sie nicht, Monsieur Dekorateur, er solle das Geforderte bekommen?“
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