Wie auf ein Kommando sahen die drei Männer Leni mehr oder weniger mitleidig an. So kann auch nur eine Frau denken! Dieser Satz war allen im Gesicht abzulesen.
„Auf der Rückseite ist der Aufstieg um ein Drittel höher, Leni.“ Meine Stimme klang leicht gequält. „Da hinaufzusteigen ist viel zu aufwendig.“
„Aber vielleicht gibt es dort eine Möglichkeit, einen Flaschenzug zu befestigen.“
„Da oben ist nichts, Leni! Du warst doch selbst mit auf dem Felsen!“
„Und wie sieht es mit einem…Baum aus? Einem starken Ast beispielsweise?“
„Da oben ist auch kein Baum, der…“
„Typisch Männer! Wollt Ihr nicht verstehen, was ich meine?“ Leni fuchtelte hilflos mit den Händen in der Luft. „Ich meine keinen Baum dort oben auf dem Felsen. Ich meine einen Baum, der auf der anderen Seite eventuell entlang des Felsens hochgewachsen ist und vielleicht die Möglichkeit bietet, dort einen Flaschenzug zu befestigen. Ist doch nicht so abwegig, oder?“
„Ich werde mal nachsehen“, meldete sich Bresser und war auch schon gleich hinter den ersten Bäumen verschwunden und am Knacken des Gehölzes konnte man hören, wie er sich den Hang hinab den Weg zur anderen Seite des Felsens suchte.
Es dauerte nur wenige Minuten, da stand der Feuerwehrmann ziemlich atemlos wieder vor der Gruppe.
„Die Lady hat Recht“, brachte er keuchend hervor. „Sie könnte tatsächlich Recht haben.“
Kurze Zeit später standen wir alle unterhalb des Felsens neben einer kräftigen Buche und sahen in die Höhe.
„Hier kann ich mit der Leiter nichts ausrichten.“ Bresser zuckte enttäuscht mit den Schultern.
„Hier sind Schleifspuren“, sagte Leni plötzlich und bückte sich zur Erde. Peters begutachtete die Stelle und deutete mit dem Zeigefinger eine gedachte Linie nach oben zum Wipfel.
„Ich bin sicher, dass es hier geschehen ist. Wie viele Leute, glauben Sie, waren es?“, wandte er sich an Esser.
„Zwei, höchstens drei, ich denke eher zwei Personen. Hier kann man ohne Klettergerät hochsteigen, wenn man im Klettern geübt ist.“
„Na, dann werde ich mich mal auf die Suche nach Spuren machen, obwohl, außer Schleif- und Wischspuren scheint hier aber nicht viel zu holen sein. Ihr könnt oben auf mich warten.“
„Ich werde ein paar der jungen Kollegen hierherschicken“, sagte Peters, als er nach einer knappen halben Stunde zurückkam. „Die können den Felsen hochkraxeln und noch ein paar Fotos machen. Fest steht, dass Leni Recht hat. Die haben den Toten an der Rückseite des Felsens nach oben gezogen. Vielleicht sogar bei Anbruch der Dunkelheit. Da werden wir kaum Zeugen ausfindig machen können.“
„Das ist aber mal ein gefälliger Feuerwehrmann, der Herr Bresser, Heiner“, sagte Leni, als wir gegen Mittag vor meiner Wohnung in Forstenau ankamen. „Könnte mir auch gefallen.“
„Ich kann ja mal ein Treffen für euch beide arrangieren…“ Ich hielt ein, als ich Lenis strafenden Blick auf mich gerichtet sah.
„Ich glaube, das würde ich selbst noch hinbekommen. Aber ich baggere keinen verheirateten Mann an. Also vergiss es einfach.“
Lisas Laune hatte sich etwas gebessert, als wir ins Haus traten. Als sie Leni sah, verflog ihr Restärger in einem Nu und sie nahm meine Kollegin zur Begrüßung in die Arme.
„Na. Ihr Feierabenddetektive, sehr erfolgreich seht ihr beide nicht aus.“
„Der Eindruck stimmt, antwortete Leni. „Keine Ahnung, wo wir beginnen sollen.“
„Ich würde sagen, wir beginnen mit einer Tasse Kaffee und dann ist für heute auch wirklich Feierabend. Der Tote läuft euch bis Montag nicht davon.“
Die Obduktion des Toten fand am Dienstag statt.
Professor Theodor Schneider stand am Eingang zur Leichenhalle des Brüderkrankenhauses, wohin die Leichenbestatter den Toten gebracht hatten und rauchte eine Zigarette.
Es war noch früh am Morgen und im Schatten der riesigen Kastanienbäume, die den angrenzenden Park säumten, eröffnete sich ein hoffnungsvoller Tag. Es würde sehr warm werden, hatten die Wetterfrösche vorausgesagt und die Strahlen der aufsteigenden Sonne, die wie in Streifen geschnittenes Papier durch die Bäume auf Schneider herunterfielen, schienen die Vorhersage zu bestätigen.
Gerade, als Schneider seine Zigarette am Boden zertrat, bogen Leni und ich um die Ecke.
„Hab` ich` s mir doch gleich gedacht. Sie scheinen doch tatsächlich die einzigen Ermittler beim Trierer Polizeipräsidium zu sein“, lachte Schneider und kam uns entgegen. Dann begrüßte er Leni mit einem vollendeten Handkuss, was diese mit einem leichten verlegenen Erröten quittierte und mich mit einem kräftigen Händedruck, den man ihm nicht zugetraut hätte. Denn Kraft sprühte Schneider nach außen absolut nicht aus. Seine schlanke und hochgewachsene Gestalt wurde auch mehr mit den leichten Dingen des Lebens, oder besser gesagt, des Todes, konfrontiert.
Schneider strich sich mit dem Daumen der rechten Hand über den akkurat gestutzten Menjou-Schnurrbart, der ebenso weiß war wie seine kurz geschnittenen Haare.
Für mich war Schneider einer derjenigen Personen, die man vom Alter her nicht so einfach einordnen konnte. Doch ich wähnte ihn in der Nähe der Beendigung seines Arbeitslebens.
Den offenen grünen Kittel nach hinten wehend, ging Schneider voran zu seinem Arbeitsplatz, dem Sektionsraum, in dem bereits alles vorbereitet war.
Wo Schneider war, da war auch Wladimir Kornsack, das war eben so. Jeder Obduzent hatte seinen Helfer und Kornsack war der von Schneider und das schon seit vielen Jahren. Sie waren ein eingespieltes Team, das ohne viele Worte auskam.
Es war ein einfaches Prinzip: Kornsack machte die Drecksarbeit und Schneider entfernte, gleich einem Operateur Organe und Körpersäfte, um sie mit einem in sein Diktafon gesprochenen Kommentar an Kornsack weiterzureichen, der sie endlich in kleinen Gefäßen einschloss und etikettierte.
Kornsack selbst hatte immer noch das Leiden, das sich seit unserem ersten Treffen nicht gebessert hatte. Sein rechtes Auge öffnete sich nicht so, wie es Kornsack eigentlich wollte. Ein geschädigter Nerv verhinderte eine Synchronisation mit dem linken, was aber nicht bedeutete, dass es sich überhaupt nicht öffnete. Es öffnete sich wohl, aber mit einer erheblichen Verzögerung und wer lediglich die rechte Gesichtshälfte von Kornsack sah, hatte den Eindruck, dieser sei in einen leichten Schlaf verfallen und das langsame Öffnen des Auges verstärkte diesen Verdacht nur noch.
Der Gehilfe hatte die unbekleidete Leiche bereits in Rückenlage auf dem Seziertisch platziert, ungewaschen, so, wie man sie auf dem Felsen vorgefunden hatte. Nun war er gerade dabei, ein Holzstück, das den Zweck eines Kissens erfüllen sollte unter den Kopf des Toten zu legen.
Als er Schneider, Leni und mich ankommen sah, hob er kurz den Kopf und nickte uns kurz zu, während er weiterarbeitete. Das rechte Auge blieb dabei geschlossen.
„Dann wollen wir mal.“ Schneider zog sich ein paar Gummihandschuhe über und fasste den linken Unterarm der Leiche, als benötige er Kontakt zu ihr wie eine Krankenschwester zu einem Kranken und sah Leni und mich an. „Dass der Mann ohne Herz hier eingeliefert wurde, das ist Ihnen ja bekannt. Ich würde darauf wetten, dass er keinerlei weitere Verletzungen am Körper hat. Aber wer weiß? Wir werden nachsehen.“
Die anschließende körperliche Untersuchung dauerte nicht lange. Mit Unterstützung von Kornsack drehte er die Leiche auf den Bauch, untersuchte die Rückenpartie und drehte sie wieder zurück auf den Rücken.
„Wie gesagt, nichts. Oder doch. Der Tote hat Leichenflecken auf beiden Körperseiten. Das wird interessant sein für Sie. Das bedeutet nämlich …“
„Dass der Tote nach seinem Todeseintritt von einer Körperseite auf die andere bewegt wurde.“
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