Siegfried Ahlborn
Das Gedächtnis der Organe
Ein Roman aus dem Jahre 2266
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Inhaltsverzeichnis
Titel Siegfried Ahlborn Das Gedächtnis der Organe Ein Roman aus dem Jahre 2266 Dieses ebook wurde erstellt bei
Die Vorbereitung
Im Stadtkrankenhaus
Ein verwegener Plan
Der Weg an die Öffentlichkeit
Das Gerücht
Der Tauben-Alfons
Bei den Freunden
Ein Leserbrief von Oma Lieb
In der Niederstadt
In der Nachfolge Christi
Im Lokal des kleinen Mannes
Bei meinem Anwalt
Wo ist Oma Lieb
Eine Jagdszene
Bei Gericht
Im Organzentrum
Im Krankenhaus am Stadtrand
Auf der Flucht
Rückkehr ins Jahr 2145
Vergangene Begegnungen
Flucht in die Berge
Die Verschwörung
Tod in den Bergen?
Im Jahre 2012
Hirntod
Am Abgrund
Organtod
Zeitensprung
Zurück im Jahre 2266
Der Kampf beginnt
Thea
Eine Anekdote
Die Aussage des Grals
Ein neuer Plan
Das Bild der Malerin
Tod in der Uni
Im Zentrum des Bösen
Die Spinne
Das Gedächtnis der Organe
Impressum neobooks
Wir schreiben das Jahr 2266 und ich weiß nicht wie ich beginnen soll eine Geschichte für das Jahr 2012 zu schreiben. Im Grunde genommen ist es ja auch zu spät. Aber begonnen hat die Geschichte – laut meines Urgroßvaters – im Jahre 2012. Sie hätte nur auch damals schon geschrieben werden müssen.
Dieses überlegend, will ich mich gerade wieder von meinem Arbeitsplatz erheben, da summt der Türspion und kündet mir per Video einen Regierungsbeauftragten für Gesundheit an. Sofort wollen meine Knie weich werden, aber ich rufe mich zur Räson und meine Knie halten stand. Ich weiß schon, was der Mensch, der sich regelmäßig bei mir meldet, will. Er ist unterwegs um Menschen wie mich auf ihren Gesundheitszustand zu überprüfen, denn man will den Moment nicht verpassen, wo wir unsere Meinung ändern, oder tatsächlich so schwer erkranken, dass sie ihre Macht entfalten können. Oh ja, man ist ganz wild auf unsere Organe, auf die Organe von Menschen, von denen es nur noch ganz wenige gibt; von wirklich gesunden Menschen.
Aber da steht der Herr vom Gesundheitsamt schon in der Tür und begrüßt mich mit Höflichkeit, aber auch mit einem lauernden Blick auf meine Gesundheit. „Guten Tag Herr Tanner“, sagt er. „Wie geht es ihnen?“ „Gut“, antworte ich mit Überzeugung. „Bitte setzen Sie sich doch.“ Er setzt sich an den kleinen runden Glastisch, der bei mir einladend in der Nähe der Tür steht, und ich setze mich zu ihm. Aber trotz der eigentlich jetzt geforderten Höflichkeit, biete ich ihm nichts zu trinken an. „Sie sind gesund?“ Diese Frage, die er dann an mich stellt – scheinbar ohne zu bemerken, dass ich ihm nichts angeboten habe – ist sehr direkt, aber ich versuche ruhig zu bleiben. „Ja“, sage ich. „Ich bin gesund.“ „Sie haben immer noch nicht unterschrieben“, fährt er fort. „Ich weiß“, sage ich. „Aber ich bin auch jetzt noch nicht bereit zu unterschreiben.“ „Aber bald werden Sie es müssen“, sagt er und klopft mit dem Zeigefinger auf seine Papiere. „Wir haben schon viel zu lange die Augen zugedrückt. Und das haben wir auch nur getan, weil Sie durch Ihren Urgroßvater einen besonderen Status haben und zu einer Gattung von Mensch gehören, die wir in einer gewissen Weise bewundern. Aber ich sage Ihnen: Treiben Sie es nicht zu weit.“
Ich neige mich zu ihm hinüber und sage ziemlich bestimmt: „Meine Freunde und ich, wir sind nicht für die Organspende. Auf jeden Fall nicht für die sogenannte Hirn-Tod-Spende, denn die Organe sind noch nicht tot, wenn sie dem Menschen entnommen werden. Verstehen Sie das?“ „Nein“, ist seine Antwort, und ich sage abschließend, weil es ja doch keinen Sinn hat, mit ihm zu diskutieren: „Wir haben halt eine andere Anschauung und andere Werte, nach denen wir uns richten.“ „Ja, ich weiß“, sagt er. „Und Sie wollen ja auch selbst keines bekommen. Warum nicht?“ „Ich glaube, das verstehen Sie nicht.“ Meine Antwort ist jetzt kurz und fast unfreundlich, denn ich weiß sehr gut, dass sein Weltbild meine Argumente nicht gelten lässt und dass ich sogar eher seinen Zorn erregen würde, als dass ich ihm begreiflich machen könnte, wo meine Freunde und ich den Sinn des Lebens sehen. Aber er ist bereits in Zorn und fragt mich in einem jetzt harten Ton: „Wo haben sich ihre Freunde versteckt?“ „Ich weiß es nicht“, antworte ich bestimmt.
Sein Gesicht, welches bei seinem Eintritt in meine Wohnung fast etwas verschämt blass ausgesehen hatte, bekommt eine rote Farbe und er zischt mich zornig an: „Das werden wir schon noch herausfinden. Sie können selber nur froh sein, dass Ihre Familie bei uns so hoch angesehen ist. Aber glauben Sie mir. Auch dabei ist die Grenze bald erreicht“. Damit spielt er, wie auch schon vorher, auf meinen Urgroßvater an, dessen These von der Entwicklung des Menschen vor Jahren noch die Fachwelt in Atem gehalten hatte.
Aber bevor ich weiter denken kann, schwenkt sein Ton um und er fragt mich fast flehend, indem er mir ein Papier hinschiebt: „Bitte unterschreiben Sie einfach. Sie würden mir einen großen Gefallen tun.“ Ich schaue ihn eine Weile an und habe fast ein wenig Mitleid mit ihm. Er gehört zu den Menschen, die ganz im System untergegangen sind und allen Sinn für eine höhere Entwicklung des Lebens verloren haben. Die Form ihrer Höherentwicklung liegt für sie nur in der Möglichkeit, immer genügend Ersatzorgane vorrätig zu haben. Und je gesünder diese Organe sind, desto sicherer ist ihr eigener Verbleib auf Erden. Aber er zeigt mir auch genau das, was die Gesellschaft in der letzten Zeit begonnen hat zu verunsichern. Er zeigt mir die Angst, die daraus resultiert, dass die Organe, die sich auf dem Markt befinden immer schlechter werden.
Er selbst scheint sogar unter irgendeinem organischen Problem zu leiden. Denn, wenn er auch äußerlich gesund aussieht, weil er weder zu dick noch zu dünn ist, sich gerade hält und ein ziemlich harmonisches männliches Gesicht hat, das bestimmt jünger aussieht, als er in Wirklichkeit ist, so sieht man ihm doch an der Grundfarbe des Gesichtes und an der Ängstlichkeit seiner Haltung an, dass er mit irgendeinem Problem zu kämpfen hat. Und die Unterschrift auf dem Papier, das er mir hingeschoben hat, wäre bestimmt auch dazu geeignet ihn selbst zu beruhigen. Ich schaue es mir an, obwohl ich es schon viele Male gesehen habe. Es ist die Zustimmung zu einer Organspende im Falle eines gewaltsamen oder geplanten Todes.
Und während ich auf das Papier schaue, kommen mir Zweifel, ob ich den Menschen im Jahre 2012 diese Situation, in der wir uns heute befinden, wirklich hätte zumuten dürfen.
Allerdings hätten sie dann gewusst, was auf sie zukommt, und hätten es vielleicht verhindern können.
Mit diesen Gedanken schiebe ich dem Beamten das Papier über den Tisch zurück und erhebe mich. Ein klares Zeichen, dass für mich das Gespräch beendet ist. Der Beamte zögert, erhebt sich dann aber widerwillig auch und geht zur Tür. Er hat verstanden. Deshalb braucht es auch nicht mehr vieler Worte der Verabschiedung. Wichtig ist ihm nur, mich noch darauf hinzuweisen, dass er bald wiederkommen wird.
Ich schließe hinter ihm die Tür und setze mich in meinen Lieblingsstuhl, um nachzudenken. Gerne würde ich meinen Freunden gleich von der Begegnung erzählen, aber das wäre viel zu gefährlich. Egal, welchen Weg ich wählen würde, um mit ihnen zu kommunizieren, er würde wahrgenommen werden, denn die Überwachung heutzutage ist zwar nicht in allen Punkten erlaubt, aber – wenn man es darauf abgesehen hat – perfekt. Ich muss also warten, bis wir uns an dem verabredeten Termin treffen.
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