Also frühstücke ich erst einmal, denn es ist noch früh. Zwar nicht mehr so ganz, und ich bin auch schon lange auf, aber viel früher kann ich noch nichts zu mir nehmen. Jetzt ist es zehn Uhr und um elf Uhr will ich mich in der Stadt mit einem Freund treffen und mich dann etwas umsehen, ob ich irgendjemandem meine Hilfe anbieten kann. Denn ohne einen Organspenderausweis bekommt man keine feste Anstellung. Die Krankenkassen haben da die Hand darüber. Sie nehmen niemanden mehr auf, der keinen Spenderausweis hat, und ohne Krankenkasse bekommt man keine Arbeit. So einfach ist das. Nur gut für mich, dass ich aus einer gut situierten Familie stamme. Denn selbst eine staatliche Unterstützung wäre an einen Spenderausweis gebunden.
Kurz vor elf mache ich mich auf den Weg. Dabei wende ich mich aber nicht gleich in die Richtung, in der ich verabredet bin, sondern gehe erst ein Stück des Weges in die Gegenrichtung. Mittlerweile weiß ich ja ungefähr, wo die Kameras stehen. Hinter einer Brücke, die noch nicht überwacht ist, wende ich dann meine Schritte und begebe mich in das Café, in dem mein Freund auf mich wartet. In diesem Café gibt es noch keine Kameras und so sind wir unbeobachtet.
Mein Freund ist mit mir der gleichen Meinung: der Meinung, dass die Organspende nicht zum Wohle, sondern zum Untergang der Menschheit führt. Und er diskutiert gerne mit mir über die Forschungen meines Urgroßvaters, der diese Theorie mit vielen Beispielen und Versuchen untermauert hat. Damals diskutierte man auch noch allgemein über diese Theorie und manche halten sie heute noch für bedenkenswert, doch durchgesetzt hat sie sich nicht, und so sind wir mit unseren Diskussionen ziemlich alleine und müssen auch immer darauf achten, nicht die Aufmerksamkeit der anderen Gäste des Lokals zu erregen.
Denn vor Kurzem sagte er einmal ziemlich laut und aufgeregt zu mir: Wir sind von Grabräubern zu Organräubern geworden. Und die Gäste am Nachbartisch schauten irritiert zu uns herüber. So etwas darf einfach nicht passieren, dazu ist es zu spät. Früher, im Beginn dieser Entwicklung, also etwa im Jahre 2012, da hätte man so etwas vielleicht noch aussprechen dürfen. Aber heute ist es zu spät. Heute erregt man damit einen solchen Unmut, dass es besser ist zu schweigen.
Mein Freund ist schon da, als ich das Café betrete, und winkt mir freudig zu. Und als ich an seinen Tisch trete, richten sich alle Augen auf uns. Nicht, weil mein Freund und ich eigenartig gekleidet wären, oder eine fremde Hautfarbe besäßen, sondern, weil wir uns von den anderen Menschen durch unser gesundes Aussehen unterscheiden. Wir gehören zu einer Menschengattung, die sich im Laufe der vorangegangenen Generationen in ihrer gesunden Menschlichkeit gehalten hat, und die anderen Menschen betrachten uns teils mit Neugier, teils mit Neid, aber auch teilweise mit Abneigung. Wir wissen das und sind es gewohnt.
Würden sich die anderen Menschen dafür interessieren und uns einmal danach fragen, so müssten wir ihnen etwas sagen, was sie in Wirklichkeit gar nicht hören wollten, und so vermeiden wir es gefragt zu werden. Nur wenn jemand fragt, dem man ansieht, dass er wirklich interessiert und offen ist, so öffnen wir uns auch und berichten ihm von unserer Art des Lebens.
Mein Freund ist, so wie ich, 60 Jahre alt. Das heißt, ich bin schon 63 Jahre alt. Aber das ist heutzutage, wo die Menschen fast 130 Jahre alt werden, noch kein Alter. Und wir wären durchaus noch viele Jahre als Organspender zu gebrauchen.
Ulli, so heißt mein Freund, hat schon einen Kaffee für mich bestellt und kommt gleich zum Thema: „Ich brauche mich nicht mehr zu verstecken“, sagt er. „Es ist vorbei. Wir sind aufgeflogen.“ Dabei schaut er mich tieftraurig an. Mit einer Traurigkeit, die man gar nicht in Worte fassen kann und die sich auch gleich auf mich überträgt. „Was ist passiert?“ frage ich mit belegter Stimme. „Meine Tochter hat sich den Arm gebrochen und muss ins Krankenhaus. Sie muss operiert werden.“
Ich erschrecke, denn ich weiß gleich, was das bedeutet. Ulli ist ein Freund, der so wie ich strikt gegen die Organspende ist und es bis jetzt geschafft hat, ohne diesen Ausweis durchs Leben zu kommen. Aber sein Kind würde, wie alle Erwachsenen, mit dem 16. Jahr als Organspender registriert werden. Deswegen wollte er sie mit 16 untertauchen lassen. Aber das ist jetzt vorbei. Denn seine Tochter Elena ist erst 14 und muss nun im Krankenhaus operiert werden. Und damit ist es vorbei mit der Untertaucherei.
Zwar könnte sie auch später noch verschwinden, aber dann ist der Organspenderausweis schon erstellt, und würde in einer kritischen Situation zur Wirksamkeit kommen. Denn egal, wie und wo ihr etwas passiert. Sie würde erkannt werden, und ihre Unterschrift von damals würde immer gelten. Und eine vollkommene Identitätsänderung ist viel zu kompliziert und bedarf einer Menge krimineller Energie.
Deshalb kann ich es sofort verstehen, wenn Ulli sagt: Es ist vorbei! Aber er ahnt natürlich nicht, was das auch in mir auslöst. Ich spüre, dass ich anfange zu zittern und ganz kalte Hände bekomme. Und vor meinem geistigen Blick ist es, als würde die Erde versinken. Denn ich weiß: jetzt muss auch ich etwas ändern. Jetzt ist es soweit. Jetzt darf ich nicht mehr länger warten.
So sitzen wir uns gegenüber und keiner sagt ein Wort. Beide wissen wir, was das bedeutet. Ich starre in meinen Kaffee und sage schließlich. „Heute war der Abgeordnete vom Gesundheitsamt wieder bei mir. Er wollte mich unbedingt zum Unterschreiben bewegen. Aber ich habe ihm den Gefallen nicht getan.“ „Irgendwann werden sie Dich doch dazu zwingen“, sagt Ulli und fügt hinzu: „Im Grunde genommen habe ich auch keine Lust mehr mich zu verstecken. Wenn man nur wüsste, wie das Ende aussieht, dann bräuchte man sich ja gar nicht zu sorgen. Wir müssen einfach nur so sterben, dass unsere Organe nicht mehr zu gebrauchen sind.“ „Du bist ein Traumtänzer“, falle ich ihm ins Wort. „Irgendetwas wird von Dir immer zu gebrauchen sein. Und sind es auch nur die Nägel, die Haare oder die Knochen. Es wird Material gebraucht – viel Material.“ Ulli verzieht das Gesicht und meint dann lakonisch. Der Sinn unseres Lebens liegt also nur darin, ein wandelndes Ersatzteillager zu sein?!“ „Richtig“, sage ich, „und frischer kann man es gar nicht haben.“ „Ich finde das grauenvoll“, schüttelt sich Ulli. „Und wir können nichts dagegen tun.“ „Doch“, sage ich. „Wir müssen endlich damit anfangen. Wir dürfen uns nicht weiter immer nur verstecken. Wir müssen kämpfen.“ „Das haben schon ganz andere versucht“, entgegnet Ulli, der sehr erstaunt über meinen emotionalen Redefluss ist. So kennt er mich gar nicht. Aber das macht nichts. Manchmal ändert sich das Leben ganz plötzlich und unerwartet. „Alle, die gegen die Organspende gekämpft haben sind gescheitert“, fährt er fort. „Glaubst Du wirklich, Du könntest jetzt etwas erreichen? Schau sie Dir doch an, die Menschen. Sie gieren nach dem Leben, das sie schon verloren haben. Sie gieren nach den Organen der anderen Menschen, weil sie glauben ihr Leben auf diese Weise wieder herstellen zu können. Sie sind wie Kannibalen, die ihr Heil im Fleisch des anderen suchen.“
„Sei nicht so hart“, falle ich ihm ins Wort. „Aber es ist doch wahr“, lässt er sich nicht stoppen. Er ist in Fahrt und die Ursache ist wahrscheinlich der Schmerz um die Tochter, die jetzt in die Fänge der Medizin gerät. „Die Menschen sind erbärmlich“, fährt er fort. „Der einzige Sinn ihres kleinen, jämmerlichen Lebens liegt in der Jagt nach frischen Organen. Jeder glaubt, dass seine eigenen Organe nicht mehr gut genug sind, und beneidet den anderen um die seinen. Ich mache mir Sorgen um Elena“. Die letzten Worte klingen wie ein verzweifelter Schrei. Und ich mache mir Sorgen um ihn.
„Ich muss gehen“, sagt er plötzlich. „In einer viertel Stunde kommen sie um Elena abzuholen. Ich bin nur hergekommen, um Dich zu informieren, und weil wir verabredet waren“. „Darf ich mitkommen?“ frage ich ihn. „Ja, komm nur“, sagt er. „Elena mag Dich und ist vielleicht ruhiger, wenn Du zugegen bist.“
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