„Klasse!“ ruft der kleine Mann und springt in die Höhe. „Zumal ich der Einzige bin, der kein Interesse an dem Ganzen hat.“ „Das stimmt, Herr Dr. Jost ... „ sage ich entschuldigend. „Ach lassen Sie doch den Dr. und den Jost weg. Sagen Sie ruhig: Kleiner Mann zu mir, wie Sie das in Gedanken auch immer tun.“ „Können Sie etwa Gedanken lesen?“ frage ich, weil ich so erstaunt über seine Bemerkungen und über seinen Scharfsinn bin. Er lacht verschmitzt und hoppelt auf und ab. „Ich kann nur raten ... Sie wissen doch.“ „Ja, ja, genau“ , nicke ich vielsagend. Aber Sie haben recht. Sie sind der Einzige, der nichts davon hat. Dürfen wir Ihnen das zumuten?“ „Zumuten?“ lacht er und mimt den Aktiven, ich spiele gerne Theater. Und vor allem möchte ich wissen, ob ich recht hatte.“ Dabei schaut er die Reitlehrerin herausfordernd an: „Sind Sie bestochen worden?“
Die Reitlehrerin sinkt in sich zusammen und wird leichenblass. Aber sie merkt auch, dass es jetzt um Wichtigeres geht, und sagt: „Ja, das könnte man so sagen, ich bin bestochen worden.“ Der kleine Mann ist begeistert, jaucht, springt in die Luft, klatscht in die Hände und ruft: „Wieder ein Sechser im Lotto. Los, Frau Reitlehrerin, erzählen Sie.“
„Es ist ja nichts Besonderes, dass man frisches Blut braucht“, spricht sie weiter. „Das Besondere ist nur, dass ich es mir zurzeit nicht leisten kann. Deshalb sprach ich im Krankenhaus vor und bat um einen Kredit.“ „Einen Blutkredit“, verbesserte der kleine Mann genüsslich. „Einen Blutkredit - wenn Sie so wollen, ja“, fährt die Reitlehrerin fort. „Also, man hat mir keinen gegeben. Aber dann kam plötzlich jemand vom Krankenhaus zu mir und erzählte mir, dass der Vater von Elena behauptet habe, dass seine Tochter springen könne und dabei noch nie vom Pferd gefallen sei, und auch nie vom Pferd fallen würde. Deshalb habe er mit ihm eine Wette gemacht. Und wenn er ihm nun beweisen könne, dass sie doch schon einmal beim Springen vom Pferd gefallen sei, so würde er seine Wette gewinnen und mir die Blutkonserve bezahlen. Ja, sogar für das ganze nächste Jahr würde er die Kosten der Behandlungen übernehmen. Das war verlockend und ich dachte, dass das Mädchen ruhig auch einmal vom Pferd fallen dürfe, denn wir Reiter haben das alle schon erlebt. Ich wusste ja nicht, dass es so schlimm werden würde.“
Ulli, der die ganze Zeit schweigend zugehört, aber intensiv mitgedacht hat, sagt plötzlich: „Dann lasst uns anfangen, jetzt sofort.“ Ich nicke ihm zu; wir haben uns verstanden. Die anderen zögern noch mit dem Verständnis, also fährt er fort: „Frau Kaupmann, Sie können jetzt etwas wieder gutmachen, indem Sie einfach umfallen und ohnmächtig werden.“ Und ungeachtet ihrer erstaunten Augen wendet er sich an den kleinen Mann und fährt fort ... oder will fortfahren, denn der kleine Mann nimmt ihm das Wort aus dem Mund: „Und ich sage zu den Polizeibeamten, dass wir keinen anderen Arzt brauchen, weil wir schon einen haben, nicht wahr? Dann fahre ich mit ihr ins Krankenhaus und kundschafte die Situation aus.“ „Ja“, ruft Ulli begeistert. Und vielleicht können Sie erreichen, dass wir unsere Tochter verlegen können.“
„Das kann er nicht alleine“, sagt der Anwalt, das muss ich über das Gericht erreichen. Aber er kann vielleicht Schlimmeres verhüten, indem er seinen Einfluss als Arzt - wenn man ihn denn lässt - auf der Station geltend macht. Im Sinne, dass er als unbeteiligter Arzt sein Veto einlegt, wenn etwas Unrechtes mit Elena geschieht.“
„Und wer bezahlt dann für mich?“ fragt die Reitlehrerin. „Wenn Sie gut spielen, die Kasse. Sonst übernehme ich das“, sage ich. Sie ist beruhigt und auch sofort zu dem Theater bereit, denn sie kann ja nur profitieren. „Wann fangen wir an?“ fragt sie. „Jetzt“, sagt Angela, die es gar nicht abwarten kann. Denn für das Herz einer Mutter ist jede Verzögerung unerträglich.
Und schon sinkt sie Reitlehrerin - natürlich vorsichtig - in sich zusammen und bleibt regungslos auf dem Boden liegen. Der kleine Mann rast zur Tür, reißt sie auf und ruft den Polizisten zu:: „Schnell! Einen Krankentransporter, hier ist eine Dame ohnmächtig geworden. Den Arzt können Sie sich sparen, ich bin Arzt.“
Es klappt. Die Beamten reagieren in seinem Sinne und wir sind erleichtert, dass sich endlich etwas tut.
Plötzlich umarmt Angela den kleinen Mann und sagt: „Ich bin Ihnen so dankbar. Sagen sie meiner Tochter, dass sie sich nicht sorgen soll, es würde alles gut. Sie soll nur noch ein wenig Geduld haben.“ Der kleine Mann putzt sich verlegen die Brille und sagt: „Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde handeln, wie eine Mutter.“
Und da ist auch schon der Wagen zur Stelle. Ich bin immer wieder erstaunt, wie schnell das geht. „Lasst uns schnell noch die Nummern austauschen, dann bleiben wir in Kontakt“, sage ich und wir schaffen es gerade noch, bevor die Polizisten mit der Trage kommen.
Jetzt ist der kleine Mann in seinem Element. Er lässt die Trage neben die regungslos am Boden liegende Person stellen, und springt und fuchtelt so aufgeregt um die Reitlehrerin herum, dass die Beamten gar nicht die Zeit haben zu kontrollieren, ob die Patientin tatsächlich bewusstlos ist oder nicht. „Sei’n Sie vorsichtig!“, ruft er immer wieder. „Sei’n Sie ja vorsichtig, und legen Sie sie auf die Seite – so, ja so, dass sie sich nicht an ihrem Erbrochenen verschlucken kann.“ Die Beamten sind überrumpelt und gehorchen. Und die Reitlehrerin kann auf diese Weise ihre Augen und ihren Mund etwas verbergen.
Dann geht der ganze Zug durch die Tür ab, und der kleine Mann blinzelt uns noch einmal vielsagend zu. Wir sind alleine und atmen tief durch.
Da kommt der Polizeichef aber auch schon wieder zurück und meint erleichtert: „Den sind wir los.“ Damit meint er den kleinen Mann, der ihm recht lästig gewesen sein muss. – Der ist nun auf dem Weg ins Krankenhaus, und die Reitlehrerin bekommt dort hoffentlich ihr Blut, das man ihr, wie sie sagte, versprochen hatte, und das sie bei der Polizei, bevor wir kamen, erfolglos versucht hatte einzuklagen. Aber das Zusammentreffen hier war wie ein Geschenk des Himmels.
Zu uns gewendet, will der Polizeichef gerade ansetzen etwas zu sagen, da kommt der Anwalt ihm zuvor: „Also, meine Mandanten werden jetzt gehen und werden von mir später einen Termin zur Anhörung vor Gericht bekommen. Ihren Bericht schicken Sie mir bitte auch in meine Kanzlei, damit ich ihn mit der Anklage zusammen bei Gericht vorlegen kann.“
Einen Moment lang überlegt der Polizist, ob das alles so seine Richtigkeit hat, und nickt dann zustimmend. Zu uns gewendet sagt er: „Ich möchte Sie hier aber nicht wieder sehen. Und bedenken Sie, dass Sie ab jetzt unter unserer speziellen Obhut stehen.“
Damit sind wir entlassen. Unter der speziellen Obhut der Polizei zu stehen ist nicht angenehm und entspricht einer schärferen Form der früher üblichen Entlassung auf Bewährung.
Aber wir sind es erst einmal zufrieden, denn wir können die nächsten Schritte vorbereiten.
Mein nächster Schritt ist der Gang an die Öffentlichkeit. Ich will die Untersuchungen meines Urgroßvaters veröffentlichen, denn ich denke es ist höchste Zeit. Der nächste Schritt von Ulli und Angela ist der Weg nach Hause in der Hoffnung bald etwas von dem kleinen Mann und dem Anwalt zu hören, denn eine unüberlegte Aktion wäre jetzt unklug. Und der nächste Schritt des Anwalts ist der Gang zum Gericht, um eine Verlegung von Elena zu erreichen und um die Anklage des Hausfriedensbruches und der Sachbeschädigung gegen seine Mandanten zu entkräften.
Der Weg an die Öffentlichkeit
Als ich das Polizeigebäude verlasse, regnet es und es ist bereits Mittag geworden. Viele Menschen sind unterwegs und erledigen ihre Einkäufe. Andere sitzen unter den geheizten Vordächern der Lokale und nehmen etwas zu sich. Aber von den Vorübereilenden scheint keiner den anderen wahrzunehmen, denn sie haben entweder Musik auf den Ohren, einen Bildschirm in der Hand oder Einkaufssäcke am Arm. An jeder Straßenecke steht eine unauffällige Kamera, die nicht nur die Gegend im Blick hat, sondern auch die Gesichter erkennt. Aber das stört niemanden. Im Gegenteil; dadurch fühlen sich die Menschen sicher und geborgen an der Hand des Gesetzes. Mich stören sie, obgleich man vor nicht all zu langer Zeit die scharfen Überwachungsmaßnahmen gelockert hat. Außerdem hat das Gericht vor Kurzem verfügt, dass nicht mehr automatisch auf die Gesundheit und damit auch auf die Organe der Menschen zugegriffen werden darf, sondern dass jeder mit seinem Spenderausweis eine freie Entscheidung behalten solle – natürlich nur zum Schein. Denn an der Tatsache des Spendenzwanges ändert sich dadurch nichts. Wobei es im Allgemeinen gar keinen Zwang braucht, da sich die Menschen sowieso nichts anderes mehr vorstellen können. Die Angst vor dem eigenen Tod ist so groß, dass man alles in Kauf nehmen würde, um an die Organe der anderen Menschen zu kommen. Und auch der eigene Körper ist – nach der allgemeinen Meinung – nach dem Tode sinnlos und darf zum Wohle der Gemeinschaft ausgeschlachtet werden.
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