Ich bin sprachlos und schockiert. Das habe ich nicht erwartet. Und ich fühle mich so, als wäre mir soeben der Boden unter den Füßen entzogen worden. Ich muss unbedingt mit Ulli sprechen. Ich muss wissen, was der Anwalt ihm gesagt hat. Doch vorher muss ich noch den kleinen Mann anrufen, um zu wissen, was er erreicht hat.
Ich habe es noch nicht zu Ende gedacht, da meldet er sich. „Wo sind Sie?“ frage ich ihn. „Ich bin im Park des Krankenhauses“, lautet seine ungewöhnlich ernste Antwort. „Ich muss Sie unbedingt informieren, hören Sie mir gut zu. Hier scheint einiges durcheinander zu sein. Nachdem ich die Reiterdame abgeliefert habe und sie ihr Blut bekommen hat, sollte ich eigentlich das Krankenhaus wieder verlassen. Aber da ist mir etwas Tolles eingefallen. Denn da ich schon einmal im Hause war, musste ich das auch irgendwie ausnutzen. Also habe ich mir in der Wäschekammer ein paar Utensilien besorgt, habe mich als Clown verkleidet und bin, wie selbstverständlich zur heilsamen Belustigung der Patienten von Zimmer zu Zimmer gegangen. Aber an das Zimmer von Elena Heuner bin ich nicht herangekommen. Nicht einmal in die Nähe. Aber ich habe etwas gehört. Ich habe gehört, dass ein hohes Regierungsmitglied hier liegt, und scheinbar die Hand über den Krankenhaustrakt hält, in welchem Elena liegt. - Was hat denn unser Anwalt gesagt?“ „Er hat mich gerade angerufen“ - „Lassen Sie mich raten. Er hat hingeschmissen.“ „Ja“, sage ich dumpf. „Genau, genau“, höre ich ihn in seinem gewohnten Tonfall, „Ich habe richtig geraten. Das ist wegen des Regierungsmitgliedes. Er hat Muffe bekommen.“ „Meinen Sie?“ „Klar. Wenn so jemand sagt: lass die Finger davon, dann tut er gut daran das auch zu befolgen.“ „Und was machen wir jetzt?“ frage ich etwas verzweifelt.
Eine Zeit lang ist Schweigen an der anderen Seite der Verbindung und mir gehen unruhige Gedanken im Kopf herum. Ich sehe plötzlich im Geiste eine Spinne im Zentrum ihres Netzes sitzen und ihre Fäden gezielt in die Umgebung hinein schicken. Und plötzlich sagt der kleine Mann zu mir: „Wir müssen die Spinne aus ihrem Zentrum locken.“ – Und nach noch einmal einer Pause, fährt er fort: „Ich weiß auch schon wie, ich weiß auch schon wie ...!“
Während des Gespräches hatte ich mich auf eine Bank gesetzt und sehe jetzt dem Bächlein zu, das sich hier seinen Weg unter der Straße hindurch bahnt, um dann schnell die Stadt wieder zu verlassen und in die freie Natur einzutauchen. Wie wunderbar ist solch ein Anblick der Unbekümmertheit und Reinheit im Gegensatz zu dem Tun der Menschen.
Und so auf das Bächlein schauend frage ich den kleinen Mann gespannt: „Wie, wie wollen Sie das machen, was haben Sie für einen Plan?“ Er lacht verhalten und sagt: „Das werde ich Ihnen am Telefon nicht erzählen. Kommen sie zum Krankenhauspark. In den Besucherbereich neben dem Haupteingang. Ich komme dann zu Ihnen. Wann können Sie da sein?“ „In einer viertel Stunde.“ „Das ist zu schnell“, wehrt er ab. „Ich habe noch etwas zu organisieren und Sie bringen bitte ihre schönen Freunde mit; die Familie Heuner. Jetzt ist es 14 Uhr, dann treffen wir uns um 16 Uhr im Garten.“
Und schon hat er aufgelegt und mir eine schöne Aufgabe hinterlassen. Hoffentlich erreiche ich die Heuners. Ich rufe an. Angela ist am Telefon und fragt mich gleich: „Gibt es Neuigkeiten. Hast Du was von Elena gehört?“ „Es gibt Neuigkeiten“, sage ich, „aber noch nicht von Elena. Der Dr. Jonas, du weißt, der kleine Mann, möchte uns sehen. Er hat Neuigkeiten.“ „Oh“, sagt sie. Ulli ist gerade nicht da, er ist bei den Freunden, um ihnen zu berichten. Und dann muss er aufs Amt, um sich sein Strafmandat zu holen, weil er keinen Spenderausweis hatte. Auch ich werde eine Strafe bezahlen müssen. Aber das ist uns egal, wenn wir nur Elena wieder haben.
„Das bin ich gerade dabei zu organisieren, aber dafür brauche ich euch“, sage ich. Wir sollen um 16 Uhr im Park des Krankenhauses sein. Du weißt, direkt neben dem Haupteingang. Dort will uns der kleine Doktor treffen. Er hat etwas geplant.“ Sie geht sofort darauf ein. „Ich werde versuchen Ulli zu erreichen. Wenn ich mich nicht mehr melde, sind wir pünktlich da. Bis dann.“ „Ja, bis dann“, sage ich und lege auf.
Jetzt habe ich noch ein wenig Zeit und versuche den Anwalt noch einmal zu erreichen. Ich will ihn fragen, was so beunruhigend gewesen ist, dass er so plötzlich das Handtuch geworfen hat, wo er doch vorher ganz auf unserer Seite war. Aber ich erreiche ihn nicht. Vielleicht lässt er sich verleugnen. Also mache ich mich schon einmal langsam in Richtung des Krankenhauses auf den Weg.
Dabei frage ich mich, ob die Menschen in der Niederstadt mich gestern und heute wohl vermisst haben, und mache mir Vorwürfe, dass ich keine Zeit für sie hatte.
Die Niederstadt ist jener Teil der Stadt, der von den Ärmsten der Armen bewohnt wird. Und in der Niederstadt liegt mein fast tägliches Betätigungsfeld. Dort brauchen mich die Menschen, und ich bin dort so etwas wie das Mädchen für alles. Ich helfe den Menschen bei Behördengängen, besorge ihnen etwas zu essen, wenn sie gar nichts mehr haben, helfe ihnen medizinisch – soweit ich das kann und darf – und tröste sie, wenn sie verzweifelt sind. Dadurch bin ich bei ihnen gerne gesehen und kann sie zu Aktivitäten bewegen, die sie sonst weit von sich weisen.
So habe ich ihnen eine Musikschule organisiert, spiele mit ihnen Theater, halte Lesekreise und Seminare ab und versuche sie für die Kunst und die Religion zu öffnen. Das mache ich schon viele Jahre und ich mache es, weil ich durch meine Familie in dieser Richtung vorbelastet bin. Schon mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater, aber auch die weiblichen Mitglieder der Familie, haben sich stets um diese Menschen gekümmert und gesorgt. Mein Urgroßvater hat diese Verbindung sogar wissenschaftlich genutzt und ist mit seinen Forschungen außerordentlich bekannt geworden. Man kann sagen, dass es ihm und seinen Forschungen zu verdanken ist, dass die Menschen in der Niederstadt nicht zu Tieren degradiert wurden. Denn er hat durch seine Forschungen beweisen können, dass die Menschen, ob sie nun in der City oder in der Niederstadt wohnen, im Sinne ihrer menschlichen Entwicklung eine Einheit sind.
Aber er sagte auch ganz deutlich, dass sich die Einheit der Menschen nicht auf den Organaustausch beziehe. (Denn die Cityaner wollten die Niederstädtler für sich ausschlachten.) Die menschliche Einheit dürfe nur eine geistige Einheit sein. Im Geiste würde die Menschheit als eine Ganzheit funktionieren. Die Menschheit sei ein Organismus, wo alles aufeinander wirke – aber rein geistig. Er machte das fest an der Tatsache der Liebefähigkeit. Er sagte, dass es eine freie Liebe nur gäbe, wenn man den anderen fördere, ihn aber gleichzeitig unangetastet ließe. Er übertrug die Liebe der inneren Organe untereinander auf die einander fördernde Liebe der Gesellschaft im Äußeren, weil sich die inneren Organe des Menschen wohl untereinander förderten, sich aber nicht gegeneinander austauschten. Und er stellte die These auf, dass der Fortgang der geistigen Entwicklung der Menschheit davon abhinge, dass man sich nicht mit dem anderen organisch verwechsele, ihn aber zu dem geistigen Gesamtorganismus der Menschheit dazuzähle. Er konnte beweisen, dass die gesamte Menschheit wie ein großer einheitlicher Organismus fungiere, in der die eine Gruppe nicht ohne die andere lebensfähig sei. Und dass, wenn die eine Gruppe die andere nicht mehr wahrnehme – oder deren Kräfte ausbeute –, beide Gruppen dem Untergang geweiht seien. Denn das sich Erkennen am anderen, und das selbstlose und unangetastete Fördern des anderen, gehöre zu den wichtigsten Prinzipien einer geistigen Weiterentwicklung der Menschheit.
Ja, das war mein Urgroßvater Wilfried Darben, und immer, wenn ich so im Stillen darüber nachdenke, frage ich mich, ob ich heute wirklich genug dafür tue.
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