Ich orientiere mich kurz und wende mich dann nach Norden in die Richtung, in der ich das Verlagsgebäude der Stadt vermute. Ich war noch nie dort, kenne aber den Namen der Straße, in der es zu finden ist.
Nachdem ich ein paar Straßen überquert habe, zweimal von unachtsamen Menschen angerempelt wurde und einmal schnell an einem kleinen Imbissstand etwas zu mit genommen habe, erreiche ich das angestrebte Gebäude. Es ist ein hohes altes Haus, so wie man früher gebaut hat, und mein Urgroßvater es bestimmt noch kannte. Man nannte es damals einen Ziegelbau. Zwar ist es schon einige Male modernisiert worden, hat aber noch seine altertümliche Ausstrahlung behalten.
Ich betrete es durch den Haupteingang und stehe vor einem Glaskasten, aus dem heraus mich eine Empfangsdame neugierig anschaut. Hier ist es noch so. In anderen Häusern wird man von einem Roboter oder gar nicht empfangen. Und trotzdem: Dieser moderne Glaskasten hier passt nicht zu dem alten Haus. Um den neugierigen Blick der Empfangsdame aber nicht länger zu quälen, nenne ich ihr meinen Namen und bitte sie mich zu einem Verleger durch zu schicken. Aber nur durch einen kleinen Hinweis auf meinen Urgroßvater werde ich weitergeleitet.
Dann stehe ich vor einer Dame, die die Geschicke dieses Hauses lenkt. Sie ist nicht mehr ganz jung, etwas jünger vielleicht als ich und macht sofort einen außerordentlich sympathischen Eindruck auf mich. Ebenso muss es ihr gehen, denn sie erhebt sich, um mich zu begrüßen und dafür kommt sie extra um den Schreibtisch herum nach vorne und auf mich zu. Ich bin mir sicher, dass das sonst nicht üblich ist, und auch nichts mit meiner Verwandtschaft zu tun hat. Als sie sich wieder gesetzt hat, bittet sie mich auch mich zu setzten und ihr von meinem Anliegen zu erzählen.
Ich sage ihr, dass ich mich entschlossen habe, angesichts der heutigen problematischen Gesundheitslage der Menschen, mit Forschungsergebnissen meines Urgroßvaters Prof. Dr. Dr. Wilfried Darbens an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich sage ihr aber nichts von meiner gegenwärtigen Situation, und auch nichts davon, wie kritisch ich selbst der gegenwärtigen Praxis der Organspende gegenüber denke, sondern berufe mich ganz auf mein wissenschaftliches Verantwortungsgefühl der Menschheit gegenüber.
Sie hört mir interessiert zu und bittet mich dann, ihr noch genauer zu beschreiben, was der Inhalt meines Artikels sein solle und ob ich an regelmäßige Artikel gedacht hätte.
Ich sage Ihr, dass sich der Inhalt um die Frage drehe, ob der Mensch sich auf den heutigen Stand der Zivilisation hätte erheben können, wenn er als Neandertaler schon die Möglichkeit gehabt hätte, Organe zu tauschen.
Sie schaut mich groß und ungläubig an. Aber auch skeptisch, als überlege sie, ob dieses Thema für ihre Zeitschrift wirklich geeignet sei oder vielleicht nur Schaden anrichte: „Können Sie mir das präzisieren?“ bittet sie mich. „Durchaus“, sage ich: Prof. Dr. Dr. Darben ist in seinen Untersuchungen zu der interessanten These gekommen, dass die Entwicklung einer Spezies stehen bleibe, wenn sie sich fremde Organe anzieht. Er sagte, dass das die Entwicklung hemme, wie unpassende Schuhe das gesunde Gehen hemmen. Denn er war der Ansicht, dass die Organe des Menschen mit seiner inneren Entwicklung fortschreiten, um sich im Laufe der Jahrhunderte zu veredeln. Man sähe das ja schon daran, dass ein Neandertaler die Nahrung des heutigen Menschen niemals vertragen könne. Aber auch die geistige Entwicklung ginge damit einher. Und der Mensch hätte die heutige Höhe nie erreicht, wenn er seine inneren Organe nicht immer schön bei sich gehalten hätte. An jedes fremde Schuhwerk hätte er sich - im übertragenen Sinne - immer wieder neu gewöhnen müssen und seine freie Weiterentwicklung hätte darunter gelitten. Und das Resultat wäre dann ein Verkümmern der Menschheit bis hin zu einer künftigen Unbrauchbarkeit der Organe.
„Ich weiß nicht, ob unsere Gesellschaft dafür reif ist“, überlegt die Journalistin. „Das will niemand hören.“ „Sie wollen es nicht bringen?“ frage ich enttäuscht. „Ich bin unsicher“, sagt sie. „Wir sind die größte Zeitung des Landes. Das gibt einen Aufschrei. Denn das hieße ja, die heutigen Menschen als degeneriert darzustellen.“ „Das kommt doch drauf an, wie wir es darstellen“, werfe ich ein. „Ja, das kommt darauf an“, sagt sie langsam und bedächtig, und ihre Gedanken gehen spazieren.
Ich sitze eine ganze Weile und schaue sie an, während sie in Gedanken weit weg ist. Sie ist sehr hübsch für die gegenwärtigen Verhältnisse, obgleich sie nicht zu unserer Gruppe von Menschen gehört. Aber sie hat eine Aura, die hell und offen ist. Ihr Haar hat sie hochgesteckt, um es im Zaum zu halten, obgleich es ihr nicht ganz gelungen ist, denn einige Strähnen gebärden sich freiheitsliebend und versuchen das Bild zu stören. Aber gerade das gibt ihr etwas so Menschliches, das ich mich tatsächlich zu ihr hingezogen fühle. Welche Farbe die Haare aber einmal hatten, kann ich nicht einwandfrei sagen, denn sie ist wohl früh ergraut. Aber auch diese Tatsache gehört zu ihrem Charme.
Langsam kommt sie wieder zu sich und sucht die Verbindung zu dem Letztgesagten. „Ja, das kommt darauf an“, wiederholt sie ihren letzten Satz. Dann ist sie wieder ganz da, schaut mich mit großem Elan an und sagt. „Wir brauchen Tatsachen, Beispiele, eine Geschichte, ein Schicksal.“ Und die Art, wie sie das sagt, löst in mir spontan die Frage aus: „Was haben Sie erlebt? Liefern Sie mir eine Geschichte?“ Sie schaut mich an und eine große Unruhe ergreift sie. Sie steht auf, setzt sich auf den Schreibtisch, geht zum Fenster, setzt sich wieder auf ihren Stuhl, steht wieder auf und sagt dann: „Darüber kann ich jetzt nicht sprechen.“
In diesem Moment geht mein Telefon, und ich sehe, dass es der Anwalt ist, der mich sprechen will. Ich schicke ihm mit einem Fingerdruck eine Nachricht, dass ich mich zurückmelden werde und sage zu der Journalistin: „Wenn Sie ein persönliches Beispiel für mich hätten, so würde mir das in der Argumentation sehr helfen.“ „Nein“, sagt sie da, „Nein“, und schüttelt den Kopf. „Lassen wir das Thema. Lassen wir den Artikel.“ „Den ganzen Artikel?“, frage ich, und mein Herz sinkt mir herab. „Ja, lassen wir ihn. - Erst einmal - jetzt.“
Sie ist blass geworden und ich spüre ein tiefes Mitleid, obgleich ich gar nicht weiß, wofür und warum. Aber ich spüre, dass es richtig ist, sich zu verabschieden. Also erhebe ich mich und sage: „Es tut mir sehr leid, dass wir jetzt nicht zusammenkommen. Aber ich bitte Sie, dass Sie sich bei mir melden, wenn Sie Ihre Meinung ändern sollten. Es ist mir sehr viel daran gelegen.“
Auch sie ist aufgestanden und gibt mir die Hand. „Ich möchte mich entschuldigen“, sagt sie, „ich kann mich im Moment noch nicht entscheiden. Aber ich werde mich bei Ihnen melden, wenn sich etwas ändern sollte. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“
Als sich die Tür des Verlagsgebäudes hinter mir geschlossen hat, rufe ich den Anwalt zurück und er erzählt mir, dass er schon Nachricht vom Krankenhaus hat. Er sagt: „Ich habe gleich, nachdem wir uns getrennt haben, bei Gericht vorgesprochen und darum gebeten, eine Verlegung von Elena Heuner in das Spital am Stadtrand beantragen zu dürfen. Dabei habe ich mich auf die freie Krankenhausauswahl berufen, die uns per Gesetz zusteht. Wie Sie wissen, muss solch ein Antrag trotzdem bei Gericht genehmigt sein. Ich habe also die Erlaubnis bekommen und habe den Antrag an das Krankenhaus übermittelt. Dabei habe ich mich auf unseren kleinen Dr. Jost berufen, der den Transport als Arzt überwachen solle. Nun, die Antwort kam sofort und unmissverständlich. Aus besonderen Umständen und wegen der Schwere des Falles akzeptiere das Krankenhaus keine Verlegung. Das war‘s, Herr Tanner, es tut mir leid. Es ist mir unmöglich, in diesem Fall Weiteres zu unternehmen. Wegen der Klage des Hausfriedensbruches und der Sachbeschädigung werden Sie noch gesondert eine Vorladung bekommen. Auf Wiederhören, Herr Tanner. Es tut mir wirklich leid.“
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