„Moment“, sage ich und frage die Journalistin, wann sie den Arzt empfangen könne. „Von mir aus gleich morgen.“ „Geht es morgen?“ frage ich ins Telefon. „Ja“, sagt er, „aber nicht vor 10 Uhr.“ Das gebe ich so an Frau Hein weiter und sie ist mit 10 Uhr einverstanden. Also wird das abgemacht und ich bin erleichtert, behalte aber doch eine Unruhe in mir, weil ich ahne, dass dieser Schuss auch nach hinten losgehen kann.
Nachdem das erledigt ist, fragt mich Frau Hein, jetzt etwas privater als bisher: „Haben Sie Kinder?“ „Ja“, sage ich, „zwei, aber die sind schon groß. Sie sind 22 und 24 Jahre alt. Ein Sohn und eine Tochter.“ „Und wie ich Sie einschätze, haben Sie wahrscheinlich keine gesundheitlichen Probleme mit ihnen gehabt“, sagt sie. Das bestätige ich und sie fährt fort: „Dann sind Sie von Gott gesegnet, denn das gibt es im Allgemeinen gar nicht mehr. Ich habe viele gesundheitliche Probleme mit meinen Kindern gehabt. Und das ist auch der Grund, warum ich auf Ihre Einladung eingegangen bin. Denn eigentlich mache ich das nicht. In Ihrem Fall habe ich es aber gemacht, weil ich Ihnen eine persönliche Frage stellen wollte. Ich wollte es schon, als Sie heute Mittag bei mir im Verlagsgebäude waren, aber ich habe mich nicht getraut.“
Ich wundere mich über ihre Ehrlichkeit und plötzliche Offenheit und höre ihr voller Anteilnahme weiter zu. „Aber jetzt, hier, jetzt will ich es tun“, fährt sie fort. Ich schaue sie interessiert und höflich an, um nicht zu neugierig zu erscheinen und um ihre Entscheidung nicht zu beeinflussen. „Können Sie sich vorstellen ewig zu leben?“ „Hier auf Erden“, frage ich zurück. „Ja, erst einmal hier auf Erden.“ Das war also ihre Frage und ich bin erstaunt, denn ich habe etwas ganz Intimes erwartet. Aber ich ahne ja in diesem Moment noch nicht, wie intim ihr diese Frage ist. Also antworte ich erst einmal so, wie ich es auf so eine Frage im Sinne meiner Weltanschauung zu antworten gewohnt bin. Ich sage: „Das ist eine sehr aktuelle und sehr wichtige Frage, Frau Hein. Zumal wir heute mit allen Mitteln versuchen, das ewige Leben auf Erden zu erlangen. Aber ein ewiges Leben auf der Erde wäre etwas Schreckliches. Stellen Sie sich doch nur einmal ein ewiges Leben auf Erden vor: ewig die gleiche Umwelt, ewig das gleiche Wasser, ewig die irdischen Bäume, Wiesen und Felder – wenn wir das Ganze nicht irgendwann selbst zugrunde gerichtet haben –, ewig die gleichen Menschen, Tiere und Pflanzen, den Kaffee morgens und das Käsebrot abends. Ewig, ewig alles ewig. Es gibt kein Ende, keinen Ausweg keine Möglichkeit der Flucht, keine Weiterentwicklung in eine andere Sphäre. Es gibt nur Stillstand, Stillstand in der Zeit. Ist das nicht ein grauenvoller Gedanke?“ Sie nickt und sagt dann: „Also glauben Sie nicht an das ewige Leben auf der Erde?“ „Nein.“ „Und an ein ewiges Leben im Geiste mit der Möglichkeit der Reinkarnation?“ „Ja“, sage ich, „daran glaube ich. „Ich frage das“, fährt sie fort, „weil ich da ein eigenartiges Erlebnis hatte. Und das hängt mit meinen Kindern zusammen. Meine Älteste ist jetzt dreißig Jahre alt. Aber als sie drei Jahre alt war, wurde sie einmal sehr krank. Sie hatte enorm hohes Fieber und fantasierte – so glaubte ich damals. Aber nach dem, was ich dann erlebte, muss ich an diesem Glauben zweifeln und muss heute denken, dass sie wahr gesprochen hat.“ „Sie haben mich neugierig gemacht“, sage ich. Sie schaut mich an, als wolle sie ergründen, ob ich sie für verrückt halte.
Aber ich bin nur neugierig interessiert, und so fährt sie fort zu erzählen: „Damals erzählte meine Tochter wie im Fiebertraum, dass ich einmal ein neues Herz bekommen würde von einem Menschen, den sie kenne. Und ich würde es ihm ohne seine Zustimmung nehmen. Dabei zuckte, schrie und wehrte sie sich heftig. Sie hat es mir natürlich nicht so schön geordnet erzählt, sondern ich musste es mir aus ihren wirren Äußerungen kombinieren. Aber ich entnahm ihren Äußerungen, dass sie schon einmal auf Erden gelebt hat und andere Menschen kannte. Und dass sie jetzt nicht neu geboren wurde, sondern wiedergeboren wurde. Halten Sie das für möglich? – Sagen Sie noch nichts, hören Sie erst weiter. Ich hatte es dann auch bald wieder vergessen. Doch jetzt, da ich von einem unbekannten, 20 Jahre jungen Mann, ein Herz bekam, habe ich mich wieder daran erinnert. Und jetzt frage ich Sie: Kann es sein, dass sie recht hatte, und kann es sein, dass mir der 20 Jährige sein Herz gar nicht hat geben wollen?“
„Nun“, sage ich, „wir haben ja heute Spendenzwang. Und nicht jeder ist wirklich damit einverstanden. Das ist das eine. Das andere ist die Frage nach den wiederholten Erdenleben. Ich glaube schon, dass wir nicht nur einmal leben, und dass es Menschen gibt, die sich daran erinnern. Vor allem kleine Kinder entwickeln oftmals eine Art Erinnerung an ihr letztes Leben, die allerdings später wieder verloren geht. Ich habe das bei meinen Kindern erlebt.“ „Das kann ich alles nicht verstehen“, sagt die Journalistin fast etwas verzweifelt. „Ich weiß nur, dass ich so ein eigenartiges Gefühl habe und das Herz, das ich jetzt habe, am liebsten wieder zurückgeben würde. Warum habe ich nicht den Mut gehabt zu sterben.“ Sie schweigt und ich bin tief erschüttert. Solch eine radikal mutige Aussage habe ich nicht erwartet. Und da kommt auch schon die nächste erstaunliche Überlegung aus ihrem Munde: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich wiederkomme, so hätte ich auch keine Angst vor dem Abschied gehabt.“
Danach ist es eine Weile still. Nur der Kellner, der ab und zu vorübereilt, stört die Ruhe. Ich bin erstaunt über ihre Worte, und sie ist erschrocken über sie. Nach einer Weile der Rücksicht vor der besonderen Bedeutung dieses Momentes sage ich vorsichtig: „Glauben Sie, dass Sie in einem nächsten Leben einen gesünderen Körper haben würden?“ Und spontan antwortet sie: „Ich würde es mir wünschen.“ „Und ich bin überzeugt, dass es so ist“, sage ich. „Sie glauben daran, nicht wahr?“ „Ja.“ „Danke“, sagt sie, „das wollte ich hören. Das nächste Mal nehme ich kein fremdes Herz, denn es ist besser tot zu sein, als mit dieser Belastung zu leben.“ Und dann fügt sie wie scherzhaft und über sich selbst lachend hinzu: „Und wenn ich wiederkomme, brauche ich ja auch keine Angst vor dem Tode zu haben.“ Damit scheint sie dieses Thema für sich - auf jeden Fall für heute Abend - abgeschlossen zu haben. Aber ich bin zu tiefst erschüttert, denn in den Äußerungen dieser verzweifelten Frau spiegelt sich mir die ganze Sehnsucht der heutigen Gesellschaft. Man möchte sich als bleibend empfinden und erlebt sich doch nur im Tod der menschlichen Organe. Das Bleibende ist nur im Geiste zu finden.
Aber nun sind wir im Laufe dieses Gespräches an einem Punkt angelangt, wo jedes weitere Wort zu viel wäre. Wir empfinden das beide und entschließen uns zu gehen. Ich begleite Frau Hein noch ein Stück des Weges und verabschiede mich dann von ihr.
Kurz vor meinem Zuhause schleiche ich mich in einen Innenhof, der rings herum von sehr hohen Gebäuden umgeben ist und wo man trotz der vielen Lichter in den Fenstern noch die Sterne sehen kann. Bei klarem Himmel gehe ich gerne nachts hier hinein, denn der Blick auf die Sterne tut mir gut. Es ist wie ein Tunnel, durch den man ins Weltall schaut.
Manchmal, wie heute, sind auch einzelne Planeten zu sehen. Dabei vergesse ich das Treiben der Menschen und der Anblick der Lichter des Himmels, die für mich nicht mit den Erdenlichtern zu vergleichen sind, tut mir gut. Sie strahlen eine Ruhe und Größe aus, die mich immer wieder gegenüber dem Wunder des Lebens bescheiden werden lässt. Es gibt Geheimnisse, die wir nicht kennen. Dabei gibt es heute, neben der großartigen Technik, die sich sogar das Weltall erobert hat, auch eine Gruppe von Menschen, die behaupten, dass sie die Geister der Sterne sehen. Und zwischen beiden Gruppen herrscht ein unüberbrückbarer Abgrund, obgleich sich die Anhänger der Sternengeister den heutigen gesellschaftlichen Regeln fügen müssen. Aber ihr Glaube ist davon unabhängig und hat auch nichts mit der Suche nach außerirdischem Leben zu tun, das man auch heute noch nicht gefunden hat.
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