Bei meinen letzten Worten merke ich, dass die anderen anfangen ihren inneren Widerstand zu lockern. Also fahre ich fort: „Wenn wir jetzt nicht eingreifen, so wird es eine grauenvolle Jagd auf die letzten gesund gebliebenen Organe geben. Und die findet man bei uns. Ihr wisst warum. Nun, aber die anderen wissen es nicht, wenn wir es ihnen nicht sagen. Das ist ein Risiko, ich weiß, aber immer verstecken können wir uns auch nicht. Ich denke auch, dass wir gute Argumente haben: unsere Organe.“
Während ich so spreche, sehe ich das besorgte Gesicht Elenas und wende mich direkt an sie. „Mit Dir hat das im Moment nichts zu tun Elena. Du bist hier nur wegen Deines Armes. Das ist schnell gemacht. Aber Dein Vater und Deine Mutter wollen jetzt wissen, wie sie sich hier verhalten sollen. Und sie werden genau wie Du einen Spenderausweis bekommen. Doch ich werde in der Zwischenzeit für einen neuen Umgang mit diesem Ausweis kämpfen. Und Deine Eltern werden mir dabei helfen.“
Ulli und seine Frau nicken mir zu. Denn obgleich ich wie über ihren Kopf hinweg gesprochen habe, sind sie mir dankbar für diese Worte. Was sollen sie auch tun, angesichts der Situation.
Nach einer Weile des Schweigens sagt Ulli: „Gut, so ist es denn jetzt so gekommen. Wir wollen das Beste daraus machen. Ich werde Dir helfen Widar“, so nennt er mich in Anlehnung an meinen Urgroßvater Wilfried Darben. „Ich werde jetzt erst einmal unterschreiben. Und dann werden wir weiter sehen. „Ich bin auch dabei“, sagt seine Frau Angela, „und ich habe sogar noch einen ganz besonderen Beitrag ... meinen Körper.“ Ulli reißt die Augen auf und ich zucke zusammen. Aber auch Elena schaut irritiert. Als die Mutter das sieht, beschwichtigt sie: „Nein, nein, nicht das, was ihr denkt. Ich meine nur als Beispiel für einen gesunden Körper. Aber lasst uns später darüber sprechen. Jetzt schauen wir erst einmal, dass bei Elena alles gut geht.“ Ihr Mann ist noch nicht vollständig beruhigt, aber er versucht sich, mit Rücksicht auf Elena, nichts anmerken zu lassen.
Ich erhebe mich, verabschiede mich von den Beiden und umarme Elena: „Elena, ich wünsche Dir alles Gute und ich komme Dich besuchen, wenn es überhaupt notwendig ist. Vielleicht bist Du ja übermorgen schon wieder zu Hause.“
An Ulli gewendet fahre ich fort: „Ruf mich an, wenn Du Zeit hast, damit wir uns besprechen können. Und melde Dich bitte auch sofort, wenn es Schwierigkeiten gibt.“ Dann verlasse ich das Krankenhaus und lasse die Familie mit ihren Sorgen zurück.
Als ich das Krankenhaus verlasse, ist es schon Abend geworden und ich wende meine Schritte, noch ganz in Gedanken an das vorher Erlebte, in Richtung meines Zuhauses. Der Himmel ist klar und kalt, was jetzt, Anfang November, nichts Besonderes ist. Das Besondere ist nur die Stimmung, die über der Stadt liegt. Immer, wenn ich mich hier im Zentrum der Stadt befinde, spüre ich diese Stimmung. Technisch ausgereift scheint alles reibungslos zu funktionieren. Und auch das Stadtbild ist durchaus harmonisch gestaltet. Nur die Bewegungen der Menschen innerhalb dieses Systems sind dem Umfeld nicht adäquat. Die Menschen sind hinter ihrer eigenen Entwicklung zurückgeblieben, so kommt es mir vor. Denn ihr gehetztes und geängstigtes Benehmen passt nicht zu dem perfekt geschaffenen und technisch ausgereiften Umfeld.
Aber jetzt habe ich Hunger und kehre noch schnell in einem Lokal ein, in dem es etwas für mich Essbares gibt. Das kann ich nicht von jedem Lokal sagen, da ich streng vegetarisch lebe. Das Lokal, in das ich jetzt gehe, ist noch nicht sehr voll, weil es auch noch nicht so spät am Abend ist. Es ist gerade einmal sechs Uhr und der eigentliche Betrieb wird erst gegen acht Uhr beginnen. So habe ich die freie Wahl und setzte mich an einen kleinen Tisch an der Seite der Innenwand, weil ich von dort aus das Lokal gut überblicken kann. Und ich weiß auch schon, was ich mir bestellen werde. Aber die Kellnerin hat noch einen Disput mit einem anderen Gast, und so dauert es eine Weile, bis sie kommt.
Der Disput spielt sich lautstark und für alle hörbar ab: „Ich stehe gar nicht auf Giraffen!“ brüllt ein sehr kleiner, älterer Herr mit Brille die Kellnerin an. Und mit Giraffe meint er wohl die Kellnerin, die etwas zu groß geraten ist. „War ja gar nicht so gemeint“, versucht sie zu beschwichtigen. „Nicht so gemeint?!“ ereifert sich der kleine Herr. „ Haben Sie oder haben Sie nicht gesagt, dass ich nicht immer unter Ihren Rock schauen solle, wenn ich an Ihnen vorbeilaufe.“ „Vielleicht habe ich das gesagt. Aber ich habe es nicht böse gemeint. Sie sind ja auch genau in der richtigen Höhe.“ „Also behaupten Sie es immer noch!“ Der kleine Mann stampft verzweifelt mit dem Fuß auf die Erde und springt dann mit beiden Beinen gleichzeitig in die Luft, um mit ihnen auch gleichzeitig - und mit einem großen Knall - vor der langen Kellnerin zu landen. „Ich und Ihnen unter den Rock gucken“, brüllt er dabei verächtlich. „Da gibt‘s ja gar nichts zu sehen, außer dem rosa Spitzenhöschen mit den Sonnenblumen.“ „Also doch ...!!“ Die Kellnerin weiß nicht, ob sie lachen oder brüllen soll.
Aber die Gäste im Raum müssen herzlich lachen, denn es war laut genug gesprochen.
Aber dann handelt die Kellnerin sehr besonnen und setzt den Gast ohne weitere Worte vor die Tür.
Ich schaue mich im Lokal um. Der Raum des Lokals ist nicht sehr groß, aber warm und gemütlich eingerichtet. Die einzelnen Tische sind durch hüfthohe Wände, in denen Blumen eingepflanzt sind, voneinander getrennt, und so hat jeder Tisch eine kleine Abgeschlossenheit und doch fühlt man sich nicht isoliert, weil man den ganzen Raum überblicken kann.
In der hinteren Ecke des Raumes, neben dem Eingang zu den Toiletten, fällt mir ein Mann auf, dessen Aufmerksamkeit - unauffällig, aber doch eindeutig - mir gilt. Vielleicht, weil ich gerade erst eingetreten bin, denke ich. Aber auch meine Aufmerksamkeit lenkt sich immer wieder zu ihm hin. Er ist noch jung und hat ein waches Auge. Seine Haare sind dunkelblond und nach hinten zu einem Zopf zusammengebunden. Gekleidet ist er mit einem blauen, vorne ausgeschnittenen Pullover. Mehr kann ich von ihm nicht sehen. Was mir aber auffällt, ist seine gesunde Ausstrahlung. Das kann natürlich an seinem Alter liegen, könnte aber auch daran liegen, dass er sich, wie meine Freunde und ich, von fremden Organen ferngehalten hat. Es ist nämlich deutlich zu sehen, dass die physische Gesundheit der Menschen durch die fremden Organe im Allgemeinen außerordentlich gelitten hat. Und auch Ihre Gesichter sind dadurch alles andere, als harmonisch zu nennen. Nach den Aussagen der Alten war das früher anders.
Das Gesicht des Menschen bei der Toilettentür aber ist harmonisch. Deshalb erregte es wohl auch meine Aufmerksamkeit. Außer ihm sind noch ein älteres Ehepaar und zwei sich lebhaft unterhaltende Damen im Lokal.
Endlich kommt die Kellnerin und ich bestelle mir einen Flammkuchen und einen kleinen gemischten Salat.
Plötzlich erhebt sich der junge Mann und kommt auf mich zu, deutet auf einen Stuhl an meinem Tisch und fragt: „Darf ich?“ „Bitte schön“, sage ich und schaue ihn fragend an.
„Entschuldigen Sie die Störung“, sagt er höflich, indem er sich zu mir setzt. „Ich habe mich vor Kurzem als Anwalt selbstständig gemacht und benutze nun jede Gelegenheit, um auf mich aufmerksam zu machen und Menschen anzusprechen. Die Bekanntgabe einer neuen Praxis über die Medien ist zwar einfacher, aber auch sehr teuer. Wenn Sie also einmal einen Anwalt brauchen, können Sie sich an mich wenden. Und wenn Sie jetzt auf Empfang schalten, schicke ich Ihnen meine Visitenkarte.“ Dabei holt er sein Mobiltelefon hervor und betätigt die Übertragung der Visitenkarte. „Nun, das kann ja nichts schaden“, sage ich und bewundere seinen Mut und seine Offenheit. Aber ich bleibe bedeckt und vorsichtig. Ich frage: „Und was übernehmen Sie für Fälle?“ „So gut wie alles“, sagt er forsch. „Was ich noch nicht weiß, lerne ich dazu.“ „Bewundernswert einfach … Das gefällt mir“, sage ich. „Und ich danke Ihnen, dass Sie sich mir vorgestellt haben.“ „Der Dank liegt ganz auf meiner Seite. Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben“, sagt er und geht zurück zu seinem Tisch. Ich schaue ihm nach und habe irgendwie die Ahnung, dass ich ihn tatsächlich bald brauchen werde.
Читать дальше