Wir erheben uns, begleichen die Rechnung, indem wir unsere Kreditkarten durch den dafür vorgesehenen Schlitz am Ausgang des Cafés ziehen, und machen uns auf den Weg zu ihm. Weit brauchen wir nicht zu gehen, denn mein Freund wohnt ganz in der Nähe. Es sind nur zwei Straßen zu überqueren, auf denen die Fahrzeuge führerlos, durch elektronische Systeme gelenkt, hin und her flitzen. An den dafür vorgesehenen Stellen halten sie auf ein Signal hin an und wir können die Straße überqueren.
Als wir uns dem Haus von Ulli nähern, sehen wir schon von Weitem, dass bereits der Krankentransporter vor der Tür steht. Ullis Frau ist aufgeregt und kommt uns entgegen. „Nun komm schon!“ ruft sie. „Elena wartet auf Dich.“ Wir beeilen uns und ich begrüße Ullis Frau Angela. Sie freut sich sichtlich, dass ich mitgekommen bin und begleitet uns ins Haus. Dort wartet Elena. Sie sitzt auf dem Schaukelsofa und sieht erbärmlich aus. Ich knie mich vor sie auf den Boden und frage: „Elena, was ist passiert?“ Sie weint. „Ich bin vom Pferd gefallen“, schluchzt sie. „Das tut mir leid, wie konnte das passieren?“ „Ich weiß nicht“, sagt sie. „Wotan wollte einfach nicht springen. Und dann hat die Reitlehrerin gesagt, ich solle die Peitsche nehmen. Aber das verträgt er nicht und hat mich abgeworfen.“ „Aber das musste die Reitlehrerin doch wissen“, sage ich etwas überrascht. „Ja klar“, heult Elena. „Das wusste die ganz genau. Das hat die extra gemacht.“ „Ach was“, beschwichtige ich. „Sie wollte nur, dass Du ein Erfolgserlebnis beim Sprung hast. Deswegen gab sie dir diesen Rat.“ „Quatsch!“ ereifert sich Elena. „Ich hab genau gesehen, wie sie geguckt hat, als sie mir befahl, die Gerte zu nehmen“. „Befahl?“ frage ich erstaunt. „Sie hat es Dir wahrscheinlich geraten, aber nicht befohlen.“ „Doch, das war ein Befehl. Ich wollte ja nicht, aber sie hat darauf bestanden.“
„Na ja“, sage ich, denn diese Diskussion bringt uns jetzt nicht weiter. „Wo hast Du dir den Arm denn gebrochen?“ „Der Arzt sagt, dass es die Elle ist“, mischt sich die Mutter in das Gespräch ein. „Komm jetzt Elena, das Auto wartet.“ Elena erhebt sich. Ihr langes, blondes Haar ist verschwitzt und noch gefüllt von den Sägespänen des Platzes, auf dem sie vom Pferd gefallen ist. Trotzdem kann man ihre außerordentliche Schönheit erkennen. Sie hat ein harmonisches Gesicht, große, blaue Augen und sinnliche aber nicht zu volle Lippen. Sie ist schlank und mittel groß. Und vor allem bewegt sie sich so ruhig und kraftvoll, dass es jeden Betrachter erfreuen muss. Nur der geschiente Arm stört diese allgemeine Harmonie. Und auch ihre Gesichtsfarbe ist verständlicherweise zurzeit nicht so frisch wie sonst. Sie ist blass und die Wangen sind von Tränen befeuchtet, und doch sieht man, wie stabil und gesund sie ist. Das sieht man heute einfach, denn man hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte angewöhnt, auf solche Merkmale zu achten. Sie zeigen den Status der Gesundheit der inneren Organe. Und auf die ist man heute besonders aufmerksam.
Auf dem Wege zur Tür stützt sie sich auf die Mutter, die genau wie sie eine schöne und gesunde Frau ist, nur dass sie eine etwas dunklere Haarfarbe und braune Augen hat. Die blauen Augen Elenas stammen wohl von ihrem Vater, der ihr auch mit den blonden Haaren geholfen hat. Ulli steht noch immer in der Tür, in der er stehen geblieben ist, als ich das Zimmer betrat, und empfängt jetzt seine Tochter und seine Frau um sie zum Auto zu begleiten. Er ist groß und gut gebaut. Mindestens 1,80 m groß und ein ganz klein wenig korpulent. Für eine so junge Tochter ist er aber mit seinen 60 Jahren noch keineswegs zu alt, denn er ist rüstig und strahlt eine große Jugendlichkeit aus. In seinem Gesicht zeigt sich eine gelebte geistige Freiheit.
Das Auto ist erreicht und die Familie setzt sich nach hinten in die bequemen Sitze. Sie nehmen Elena in die Mitte. Ich setze mich in die Sitzreihe vor sie und gebe dem Gefährt den Befehl uns ins Hospital der Stadt zu fahren. Dorthin hatte der Arzt Elena empfohlen.
Auf dem Weg dorthin schweigen wir, und jeder hängt seinen Gedanken nach. Ulli denkt vielleicht an seine Beichte, die er leisten wird gegenüber dem Gesundheitsamt. Elena denkt an die Operation und daran, dass ihr das niemals hätte passieren dürfen, und die Mutter ..? Ich weiß es nicht. Ich versuche den Eindruck loszulassen, den der Bericht des Sturzes von Elena in mir ausgelöst hat. Ich weiß nicht, ich habe so ein eigenartiges Gefühl. So, als ob sich im Hintergrund eine sehr dunkle Wesenheit bewegte gleich einer Verschwörung.
Nach und nach schaffe ich es diese Gedanken zu verdrängen und da sind wir auch schon beim Krankenhaus angekommen.
Eine Schwester empfängt uns liebevoll, macht Elena Mut und führt uns gleich in das Zimmer, in welchem Elena nun für ein paar Tage unterkommen soll. Die Schwester ist ganz in Weiß gekleidet und hat ein kunstvoll geformtes weißes Hütchen auf. Sie sieht gar nicht aus, wie eine Krankenschwester, sondern eher wie eine Prinzessin. Es ist wohl die Sitte dieses Hauses, dass alles wie für Könige gemacht aussehen soll. Es sind auch keine medizinischen Geräte zu sehen, sondern nur kunstvolle Möbel und Bilder. Und tatsächlich ist es so, als würde einem beim Betreten dieses Hauses die Sonne aufgehen. Auch Elena scheint das zu spüren und ist plötzlich ganz gelöst und entspannt. „Sind wir alleine in diesem Haus?“ frage ich die Schwester, denn ich hatte auf dem Weg ins Zimmer keine anderen Personen gesehen. „Nein, nein“, antwortet sie lachend, „das ist bei uns alles so gut organisiert, dass sich jeder Kunde wie privat und ganz persönlich aufgenommen fühlt. Bei uns ist der Kunde König. Aber jetzt lasse ich Sie eine Weile alleine, bis sie sich verabschiedet haben. Dann komme ich wieder und bringe dem jungen Fräulein etwas zum Lesen und etwas zum Essen. Später kommt dann der Arzt und wird das weitere Vorgehen mit ihr besprechen.“
„Ich möchte aber bei ihr bleiben“, sagt die Mutter schnell.“ „Ja. Natürlich gerne, wenn Sie das wollen. Möchten sie auch etwas essen?“ „Ja, gerne, dann können wir zusammen essen.“
Als die Schwester das Zimmer verlassen hat, und ich mich auch zum Gehen wende, fasst mich Ulli am Arm und fragt: „Was soll ich denn jetzt sagen wegen des Spenderausweises?“ „Die Wahrheit“, sage ich ganz spontan. „Die Wahrheit“, denn in mir war angesichts der Ereignisse der Kampfgeist erwacht. Aber Ulli schaut mich verzweifelt an und auch Angela wartet auf eine Erklärung. Deshalb fahre ich fort. „Sag ihnen ganz einfach die Wahrheit. Ich werde Dir helfen. Ich habe mir vorgenommen zu kämpfen. So wie es jetzt ist, darf und kann es nicht weiter gehen. Ich habe noch ein wenig Einfluss durch meinen Urgroßvater. Den will ich nutzen, denn wenn wir jetzt keine Veränderung erreichen, werden wir es nie mehr können. Ich will erreichen, dass wir über unseren Körper wieder selbst bestimmen können. Dass es keinen Zwang mehr, sondern eine Freiwilligkeit gibt.“
„Das haben wir doch schon alles versucht“, wirft Angela ein. Und Ulli ergänzt. „Das ist alles sinnlos. Es werden Organe gebraucht und man ist als gesunder Mensch heute seines Lebens nicht mehr sicher. Du hast ja einen Sonderstatus. Vor Dir hält man sich vielleicht zurück, aber unsereiner hat keine Chance.“
Das klingt sehr verzweifelt, aber ich will den Mut nicht fallen lassen, zumal er gerade jetzt mit einem neuen Elan in mir erwacht. Also nehme ich mir den Stuhl, der am Krankenbett steht, setze mich darauf und bedeute den anderen, sich auch zu setzen. Und dann sprudelt es aus mir heraus: „Ich muss es versuchen, und ich habe auch noch nicht alle Argumente meines Urgroßvaters auf den Tisch gelegt. Er hat mir Schriften hinterlassen, die ich jetzt an die Öffentlichkeit bringen muss. Und vielleicht hört man mir zu. Es ist unsere letzte Chance. Vielleicht, wenn es dazu kommen könnte, dass sich uns genügend Menschen anschließen, vielleicht können wir eine eigene Gruppierung bilden, ich meine eine eigenständige Partei. Dann hätten wir schon einmal einen gewissen Schutz.“
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